)
Paris - Wenn Jacques Chirac nicht bald ein Machtwort spricht, wird sein markantestes Wahlversprechen klammheimlich zu Grabe getragen. In fünf Jahren sollten die Einkommenssteuern um 30 Prozent gesenkt werden, hatte der französische Präsident vor den Sommerferien verkündet. Aber sein Premierminister Jean-Pierre Raffarin stellte nach einem Kassensturz fest, dass im staatlichen Haushalt ein Defizit von fast 45 Milliarden Euro klafft.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
So trug Raffarin den Ministern auf, bis zur ersten Kabinettssitzung nach dem Urlaub am Donnerstag Milliardeneinsparungen aufzuzeigen. Er selbst bekannte sich zu "harten Schnitten". Die Arbeitgeber drängen auf Reformen in der Wirtschaftspolitik, die Gewerkschaften rumoren. Für Raffarin, der bis zur Sommerpause gerade hundert Tage im Amt war, ist die Schonzeit vorbei.
Während die Minister in Klausur gingen, entwickelten sich auch die Gedanken des rechtsliberalen Premiers weiter. Als er sich nach drei Wochen Wanderfreuden in den Alpen erstmals öffentlich äußerte, sprach er plötzlich davon, dass "angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt" die Senkung der Sozialabgaben Priorität habe. Schon vor einer Woche war der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Pierre Mehaignerie, in dieser Richtung vorgeprescht. Mehaignerie, der wie Raffarin zu Chiracs Union für die Präsidentenmehrheit (UMP) gehört, erklärte es zu einer Frage der "Glaubwürdigkeit" in der Haushaltspolitik, dass nicht mehr so viel mit dem Glöckchen der Steuersenkungen geläutet werde.
Für dieses Jahr wurde vor der Sommerpause eine Senkung der Einkommenssteuer um fünf Prozent festgezurrt. Um Chiracs Versprechen zu erfüllen, müsste jedoch in jedem der kommenden vier Jahre ein ähnlich großer Schritt erfolgen. Daran ist nun offenbar nicht mehr zu denken.
Das Dilemma Raffarins besteht darin, dass er durch drei Versprechen gleichzeitig gebunden ist, die letztlich unvereinbar sind. Chirac hat den Wählern die Steuersenkungen zugesagt und zugleich den EU-Partnern die Einhaltung der Stabilitätskriterien. Den Arbeitgebern wiederum wurde eine deutliche Abkehr von der sozialistischen Wirtschaftspolitik aus der Zeit von Premierminister Lionel Jospin in Aussicht gestellt.