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Argentiniens Oberstes Gericht hat zwei Gesetze, die bislang die gerichtliche Verfolgung der Verbrechen der Diktatur behinderten, für verfassungswidrig erklärt. Etwa 3.000 Offiziere, von denen 30 bis heute dienen, könnten verhört werden. Mit bis zu 500 neuen Anklagen wird gerechnet.
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"Das ist ein Moment der Euphorie", freut sich Estela de Carlotto. Die Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo ist dicht umringt. Immer wieder umarmen sich die vielen Frauen der Organisation. Manche haben Schilder mit den Fotos ihrer verschwundenen und ermordeten Kinder umgehängt. Sie feiern eine längst überfällige Entscheidung der Justiz: Das Gesetz des unbedingten Gehorsams und das Schlusspunktgesetz wurden für verfassungswidrig erklärt. Beide Gesetze verhinderten bis heute die volle strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983, in der mehr als 30.000 Menschen verschwanden oder getötet wurden.
"Auch wenn wir immer optimistisch waren, hat diese Entscheidung doch lange auf sich warten lassen. Sie ist von fundamentaler Bedeutung für den Aufbau einer wirklichen Demokratie in unserem Land. Man kann nicht mit Mördern zusammenleben", sagt Carlotto. Auch Präsident Néstor Kirchner begrüßt die Entscheidung als einen "frischen Luftzug". "Das Oberste Gericht hat nun den Glauben an die Justiz zurückgegeben", erklärte Kirchner.
Um die Gesetze der Straflosigkeit ist in Argentinien lange gerungen worden. Beide Gesetze wurden 1986 und 1987 vom ersten nach der Diktatur gewählten Präsidenten, Raúl Alfonsín, verabschiedet. Das Gesetz des unbedingten Gehorsams sprach sämtliche Militärangehörige niederer Ränge von ihrer Verantwortung an den Verbrechen der Diktatur frei, da sie Befehle ausführen mussten. Und das Schlusspunktgesetz machte seinem Namen getreu einen Schlusspunkt unter die bis dato laufenden Verfahren gegen die Diktatoren.
Das lange Warten
Dabei war Argentinien das einzige Land in Südamerika, in dem den Militärjuntas der Prozess gemacht wurde. Der Präsident beugte sich damals der Armee, die mit Aufständen die Strafverfolgung zu unterbinden suchte. Alfonsíns Nachfolger im Amt, Carlos Menem, amnestierte dann gar die schon verurteilten Militärs und legte die Aufarbeitung der Verbrechen auf Eis.
Mehr als zehn Jahre lang blieb den Angehörigen der Opfer nichts weiter übrig, als nach Schlupflöchern im Justizsystem zu suchen, um die Verbrechen vor Gericht zu bringen. Vollkommen unerwartet kam darum der Schritt des heutigen Präsidenten Néstor Kirchner, der das Ende der Straflosigkeit zum Regierungsprogramm machte und vor Kongress und Senat im Jahr 2003 durchsetzte, die Amnestiegesetze für nichtig zu erklären. Eine politische Erklärung jedoch, die zwar eine Wiederaufnahme der Ermittlungen ermöglichte, jedoch ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben musste - bis vom Obersten Gericht in Buenos Aires die letzten Hürden beiseite geräumt wurden.
Nun wird mit einer Flut von Verfahren gerechnet. Aus dem Verteidigungsministerium war zu hören, dass schätzungsweise mehr als 500 Militärangehörige mit Vorladungen vor Gericht rechnen müssen - und dass deshalb eine gewisse Unruhe in der Armee herrsche.
Zwei Megaverfahren, wie sie in Argentinien genannt werden, können nun eröffnet werden, darunter jenes, in dem jene Verbrechen aufgeklärt werden sollen, die im berühmt-berüchtigten Folterzentrum ESMA begangen wurden. Insgesamt sitzen derweil schon über 120 Militärs in Haft. Gegen sie wurde in den letzten zwei Jahren ermittelt, doch bedurfte es erst der Entscheidung des OGH, um nun mit den Prozessen auch beginnen zu können.