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Ende einer (weißen) Vision

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimmeder

Analysen

Die USA müssen sich unangenehme Fragen über die Rassenbeziehungen im Land stellen.


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Charleston. Am Tag nach dem großen Schock, als die genaueren Umstände der Tat und die Beweggründe des Täters langsam klarer wurden, machte für deren Beschreibung vor allen anderen ein Wort die Runde in den amerikanischen Medien: "Unthinkable", undenkbar. Undenkbar sei es bis Mittwochabend gewesen, dass es in diesem Land junge weiße Männer gibt, die ihre schwarzen Mitbürger nicht nur im Geheimen hassen, sondern diesen Hass ausleben und sie einfach abknallen; undenkbar, dass einer, der gerade mal das Alter erreicht hat, ab dem es in den USA erlaubt ist, legal Alkohol zu konsumieren, seine großkalibrige Pistole nicht nur zur Entenjagd gebraucht; undenkbar, dass sich dieser Junge, der seine durch und durch rassistische Sicht der Dinge seit langem öffentlich gemacht hatte, am Ende bis zum Äußersten ging.

Auch wenn der Massenmord von South Carolina noch auf seine vollständige juristische Aufarbeitung wartet, scheinen die Antworten auf die Fragen nach dem Wer, Wie, Was, Wann, Warum bereits jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustehen. Demnach hatte der 21-jährige Dylan Storm R. am Mittwochabend die Emanuel African Methodist Episcopal Church in Downtown Charleston betreten, in der sich zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe Gläubiger unter der Führung ihres Pastors versammelt hatte.

Traditionsreiches afroamerikanisches Gotteshaus

Die im Süden besser als "Mother Emanuel" bekannte Kirche ist eines der ältesten und traditionsreichsten Gotteshäuser der afroamerikanischen Gemeinschaft. Sie repräsentiert einen der ersten Orte, an denen im Süden aktiv die Befreiung der Schwarzen von der Sklaverei propagiert wurde - durch Schwarze und nicht von weißen Abolitionisten. Einer ihrer Gründer war der maßgebliche Organisator eines Sklavenaufstands im Jahr 1821 (der aufgedeckt, blutig zurückgeschlagen wurde und mit 35 Exekutionen endete).

Nachdem R. den Kirchenmitgliedern rund eine Stunde lang beim Beten und beim Studium ausgewählter Bibeltexte zugehört hatte, zog er die Pistole, die ihm sein Vater im April zum 21. Geburtstag geschenkt hatte. Bevor er den ersten Schuss abgab, soll er laut Zeugenaussagen Folgendes gesagt haben: "Ihr vergewaltigt unsere Frauen und macht euch das Land zu eigen. Ihr müsst verschwinden." Dann erschoss er sechs Frauen und drei Männer.

Symptom bekämpft,aber nicht Krankheit

Das jüngste Opfer war 26 Jahre alt, das älteste 87. Das prominenteste unter ihnen war der Pastor, Reverend Clementa C. Pinckney, im Hauptberuf Senator des Bundesstaats South Carolina. Der 41-Jährige galt als Nachwuchshoffnung der Demokratischen Partei. Auch seine Schwester starb im Kugelhagel.

Danach flüchtete R. per Auto über die Bundesstaatsgrenze nach North Carolina, wo er kurze Zeit später von der Polizei gefunden und verhaftet wurde.

Die Wahnsinnstat eines offenbar mental schwer beschädigten Menschen, klar - aber undenkbar? Angesichts der allen bisher erfahrbaren Fakten nach gründlichen Planung, der Auswahl des Ortes und der Opfer scheint es vielmehr, dass sich Amerika da wieder einmal jene Art von Beruhigungspille verschrieben hat, die die schnelle Linderung eines akuten Schmerzes verheißt, aber nichts am latenten Krankheitsbild ändert. Nachvollziehbar ist das freilich trotzdem in Zeiten, in denen nicht erst seit dieser Woche auf allen Kanälen heftigst darüber debattiert wird, wie rassistisch die USA im Jahr sieben der Präsidentschaft von Barack Obama (der mit Pastor Pinckney persönlich bekannt war), des ersten afroamerikanischen Staatsoberhauptes ihrer Geschichte, wirklich sind.

Was nichts daran ändert, dass es vor allem weiße Amerikaner sind, die Taten wie die des Dylann Storm R. als Einzelerscheinungen abtun. (Auf dem Profilfoto seines Facebook-Accounts trägt R. eine Jacke mit zwei aufgenähten Flaggen, die seit Jahrzehnten ihren Platz auf dem Mülleimer der Geschichte gefunden haben: die von Südafrika zur Zeit des Apartheid-Regimes und die von Rhodesien. In Letzterem herrschte wie in Südafrika bis 1980 Apartheid, heute heißt es Zimbabwe.)

Obama als Alibibeweisfür Ende des Rassismus

Was sich in den USA angesichts der Reaktionen auf die Morde von Charleston vielerorts zeigt, ist so vor allem, wie gut es sich die Mehrheit des weißen Polit- und Medienestablishments eingerichtet hat am heraufdräuenden Ende der Obama-Ära: Nie war es leichter, alle möglichen faktischen Probleme der Minderheiten im Land mit dem Verweis in Frage zu stellen - wenn nicht gar gänzlich vom Tisch zu wischen -, dass ein schwarzer Mann im Weißen Haus doch wohl der beste Beweis dafür sei, wie weit man es gebracht habe seit jener dunklen Zeit, als die Hälfte des Landes Afroamerikaner gesetzlich verbrieft als Untermenschen ansah und entsprechend behandelte.

Aber die Tatsache, dass heute jedes amerikanische Kind, egal, ob weiß, schwarz, braun oder sonstwas, die Namen und Taten von Martin Luther King jr. und Malcolm X in der Schule lernt, hat zu lange darüber hinweggetäuscht, dass sich strukturell vielerorts wenig bis nichts getan hat in Sachen Fortschritt. Umso mehr schreckt es dann die Leute, wenn der bestehende latente Rassismus in den USA von Zeit zu Zeit so offen zutage tritt wie in Charleston.

Viele (weiße) Mitglieder des politischen und medialen Establishments des Landes hatten 2008, als Obama zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, die Vision eines "Post-Racial America" propagiert, eines Amerikas, das die historischen Gräben zwischen Schwarz und Weiß endgültig überwunden habe. Mit der sozio-ökonomischen Realität im Land hatte das schon damals ungefähr so viel zu tun wie Michelle Obama mit Abu Bakr al-Bagdadi. Zumindest mit dieser Art von falschem Prophetismus dürfte angesichts des Massakers von Charleston und der jüngsten Ereignisse von Baltimore ein für alle Mal aufgeräumt sein.