Mit der Erweiterung um sieben neue Mitglieder ist die zentrale Funktion der NATO, ein starkes Militärbündnis zu sein, passé. Darüber sind sich die Sicherheitsexperten Erich Reiter (Österreichisches Büro für Sicherheitspolitik) und Heinz Gärtner (Österreichisches Institut für Internationale Politik) einig. Denn angesichts der neuen Bedrohungsszenarien hat die Territorialverteidigung an Gewicht verloren.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Die Erweiterung führt dazu, dass die NATO aus Sicht der USA in erster Linie nicht mehr eine militärische Institution ist, sondern der Sicherstellung einer starken US-Präsenz in Europa dient", sieht Reiter eine "große Verwässerung" des altehrwürdigen westlichen Verteidigungsbündnisses für Gegenwart und Zukunft. Einen Beweis für seine These sieht er darin, dass die Beitrittsländer - aufgrund ihres überalterten Materials - keinen wesentlichen Beitrag zu einer militärischen Stärkung der NATO leisten könnten.
Der These vom Ende des Militärbündnisses stimmt auch Gärtner zu. Dass insbesondere die drei baltischen Staaten jedoch genau deswegen beigetreten sind, weil sie Teil eines solchen starken Bündnisses sein wollen, sieht er nur als scheinbaren Widerspruch an. Die Bedrohungsszenarien der Gegenwart - Verbreitung von Massenvernichtungswaffen aller Art, internationaler Terrorismus sowie das Phänomen so genannter "failing states" - machen eine Territorialverteidigung im herkömmlichen Sinn einfach nicht mehr zur Hauptaufgabe der NATO.
Die Befürchtung vieler Kritiker, durch die NATO-Erweiterung könnte es zu einer Isolation Russlands kommen, teilt Gärtner nicht. Einer möglichen Entfremdung wurde zum einen durch die Installierung des so genannten NATO-Russland-Rates abgefedert, wo Moskau im Hinblick auf die neuen Bedrohungslagen ein Mitspracherecht eingeräumt wurde. Zum anderen profitiere auch Russland von der mit der jetzigen Erweiterung einhergehenden Desintegration der NATO als kompaktes Militärbündnis, ist Gärtner überzeugt.
NATO- Erweiterung macht EU-Beistandspflicht obsolet
Schon jetzt leben 93 Prozent aller EU-Bürger in NATO-Staaten. Nach der Erweiterung wird dieser Anteil sogar auf 94 Prozent ansteigen. Für Reiter ergeben daraus zwei Schlussfolgerungen: Erstens, eine eigenständige und von der NATO weitgehend losgelöste Gemeinsame Europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (ESVP) bleibt auf absehbare Zeit Illusion. Zweitens stellt sich die Frage, wozu man überhaupt eine europäische Beistandspflicht braucht, wenn zum einen ohnehin fast alle in der NATO sind und zum anderen diejenigen, die nicht dabei sind (Irland, Schweden, Finnland und Österreich), keine Beistandsverpflichtung wollen.
Mittelfristig bedeutet das für die ESVP nach Ansicht Reiters die Konzentration auf die Bereiche Rüstungskooperation und strukturierte Zusammenarbeit mit dem Ziel, Europa interventionsfähig zu machen.
Die NATO als UNO-Ersatz?
Offen bleibt damit noch die Frage, welche Ziele die USA mit ihrer extensiven Erweiterungspolitik in Sachen NATO verfolgen. Schließlich galt hier noch Ende der 90er Jahre der Grundsatz, ein Beitritt komme nur für Staaten in Frage, die selbst für ihre eigene Sicherheit sorgen und die einen Beitrag zur militärischen Stärkung der NATO leisten können, erklärt Reiter.
Für Gärtner entwickelt sich deshalb die NATO immer mehr in Richtung einer Institution zur Organisation politischer Legitimation für Interventionen. Positiven Beispielen wie etwa im Fall des Kosovo setzt Gärtner dabei die Möglichkeit entgegen, dass damit - zumindest für kurze Zeit - auch die UNO ausgehebelt werden könnte.