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Die Demokratie ist gefährdet wie nie. Eine erfolgreiche politische Antwort muss sämtliche Bedrohungsebenen in den Blick nehmen.
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Das Schlimmste liegt hinter uns, könnte man meinen. Wenn Joe Biden kommende Woche vor dem Kapitol in Washington als 46. US-Präsident vereidigt wird, ist das Signal vermeintlich eindeutig: Die Ära Donald Trumps im Weißen Haus ist beendet, der rechtspopulistische Stresstest überstanden. Doch tatsächlich ist es für eine Entwarnung zu früh. Nicht nur in den USA, wo völlig unklar ist, ob Bidens Amtseinführung ohne Gewalt ablaufen wird, sondern weltweit. Angesichts einer unseligen Verzahnung sich verstärkender Trends sind die langfristigen Aussichten demokratischer Teilhabe derzeit so düster wie selten zuvor.
Die brisante Grundströmung der demokratischen Erosion ist dabei die immer stärkere soziale Fragmentierung. Befeuert von der technologischen Entwicklung und durch die Pandemie weiter verschärft, drohen gerade westliche Demokratien in ein nebeneinander sich stetig weiter radikalisierender Meinungsbiotope zu zerfallen, zwischen denen ein Ausgleich kaum noch möglich ist. In von Algorithmen abgeriegelten Echokammern bestimmen Soziale Medien zunehmend nicht nur, was gesagt und geschrieben, sondern auch, was überhaupt wahrgenommen und gedacht werden kann. Die dabei entstandenen ideologischen Lager bewegen sich in entkoppelten Realitäten und können sich nicht einmal mehr über die grundsätzlichsten Tatsachen verständigen. Einvernehmen besteht nur über das wechselseitige Mistrauen und die Grenzenlosigkeit der gegenseitigen Verachtung.
Die bisher ins Auge gefassten staatliche Gegenmaßnahmen sind dabei wohlmeinend, aber adressieren - etwa in Bezug auf "Hate Speech" - eher Symptome als Ursachen. Besonders fragwürdig erscheinen dabei die Kontrollversuche der Sozialen Netzwerke selbst. Sie haben sich bewusst nie als Herausgeber begriffen, die für veröffentlichte Positionen verantwortlich zeichnen. Sie sahen sich stets als reine Plattformanbieter. Das aber lässt sich mit der Twitter-Exkommunikation des US-Präsidenten nun kaum noch in Deckung bringen.
Maulkörbe für Unbequeme?
Sicher können Soziale Netzwerke frei entscheiden, wen sie auf ihren Foren dulden. Niemand hat einen Rechtsanspruch auf einen Hasskanal. Doch das ist ein legalistischer, kein politischer Einwurf. Denn natürlich ist mit einigem Recht zu fragen, weshalb Trumps Account nun blockiert ist, während die Kanäle autokratischer Regime von Teheran bis Pjöngjang offen bleiben. Fraglich ist nicht nur, nach welchen Gesichtspunkten die Konzerne hier vorgehen, sondern auch welche Einspruchsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn der aktuell gefeierte Trump-Maulkorb künftig auf andere Stimmen Anwendung findet. Ehemalige Präsidenten finden immer alternative Kommunikationskanäle. Doch gilt das Gleiche für unbequeme Nichtregierungsorganisationen? Nicht zuletzt die American Civil Liberties Union - über jeden Verdacht der Trump-Nähe erhaben - zeigt sich aus diesen Gründen besorgt über "die uneingeschränkte Macht, Personen von Plattformen zu entfernen".
Nicht einmal die zunehmend ernster geführte Diskussion über eine Zerschlagung von Internet-Monopolisten dürfte sich automatisch als segensreich für die Demokratie erweisen. Denn ob die Zersplitterung Sozialer Medien in ideologische Blöcke - wie in Deutschland etwa von der AfD gefordert - dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienlich wäre, ist mehr als zweifelhaft. Zu befürchten sind vielmehr eine weitere Radikalisierung und Abwanderungsbestrebungen in immer obskurere Seitenarme der Online-Kommunikation. Die schwierige Wahrheit lautet: Die Allmacht der Internet-Monopolisten ist mittlerweile so absolut, dass man sie als Demokrat pauschal weder dem Markt noch dem Staat überlassen mag. Die Folge ist nicht ein Di- sondern ein Trilemma, in dem Untätigkeit ebenso fragwürdig erscheint wie staatliches Durchgreifen oder marktfromme Selbstregulierung.
Bedrohung von links und rechts
Doch natürlich ist nicht jede aktuelle Bedrohung der Demokratie neu: In den vergangenen Monaten haben sich autoritäre Regime im Gewand der Pandemiebekämpfung bekanntlich von Weißrussland bis zu den Philippinen großzügig mit Notstandsrechten ausgestattet. Nicht nur Transparency International fragt besorgt, ob dieser ganz klassische Power-Grab jemals wieder rückgängig gemacht wird. Einschränkungen von Freiheiten sind jedoch auch in Demokratien zu beobachten, wie der im Dezember vorgestellte "Global State of Democracy Report" des schwedischen International Institute for Democracy and Electoral Assistance belegt. In annähernd der Hälfte aller Demokratien weltweit wurden "illegale, unverhältnismäßige, zeitlich unbegrenzte oder unnötige" Einschränkungen verhängt.
In Argentinien etwa kritisieren die Forscher den eingeführten Straftatbestand der "öffentlichen Angstmache", für den bis zu sechs Jahren Gefängnis drohen. In Israel wiederum bemängeln die Autoren Covid-Kontaktnachverfolgung durch den Geheimdienst und in Sri Lanka die Virusbekämpfung durch den Generalstab und daraus resultierenden "exzessive Polizeigewalt". Das Risiko sei real, dass sich "Regierungen an diese neue Normalität gewöhnen und daran scheitern, antidemokratische Schritte rückgängig zu machen".
Doch nicht nur von Rechtspopulismus, Technologiegiganten und übergriffiger Staatsgewalt geht eine Bedrohung der Demokratie aus, sondern auch von Teilen der radikalen Linken. Denn diese reagieren auf antiliberalen Populismus zunehmend mit einer Agenda, die der US-Politologe Yascha Mounk als "undemokratischen Liberalismus" bezeichnet. In der Folge haben sich gerade in Teilen der Hochschulen radikale Stimmen vom Leitbild des Universalismus und von einer offenen Diskussionskultur verabschiedet.
Ausgehend vom Kampf gegen real existierende Diskriminierungen hat sich dabei ein revolutionärer Furor entzündet, der Gesellschaften ausschließlich als Nullsummenspiel aus Privilegien und Ausbeutungsstrukturen betrachtet. In dieser Lesart wird unter dem Banner der sozialen Gerechtigkeit schon die Thematisierung bestimmter "problematischer" Fragen als entlarvende Ungeheuerlichkeit begriffen. Unter diesen Dogmen der postmodernen Wokeness drohen sich nun ausgerechnet Hochschulen in Orte zu verwandeln, an denen "Diversität" zwar allgegenwärtig beschworen wird, in denen von wirklicher Vielfalt der Meinungen jedoch keine Rede mehr sein kann. Vulgärversionen der Kritischen Theorie dominieren die Analysen und verhindern einen offenen Wettstreit der Ideen, der als Antidot gegen den Herdentrieb für demokratische Entscheidungen schlicht unerlässlich ist.
Debatte mit Scheuklappen
Angesichts dieser aktuellen Entwicklungen wird nun erneut erbittert darüber gestritten, wo nun die eigentliche Gefahr zu identifizieren sei: im übergriffigen Staat oder in der Echokammer, im Kapitol-Sturm, in der Cancel-Culture oder doch im politischen Islam? Mit aufgesetzten Scheuklappen ist jedoch auch diese Debatte nur eine neue Umdrehung in der Polarisierungsspirale. Es ist ja nicht so, dass die verschiedenen Herausforderungen einander gegenseitig aufheben - sie ergänzen einander. Deshalb bleibt jede Antwort, die das Gesamttableau aus dem Blick verliert, Stückwerk.
Wenn in den USA nun also Biden seinen Amtseid leistet, ist es daher angeraten, an die dringende Mahnung eines Gründervaters zu erinnern, der die Verfassung der USA einst mit aus der Taufe hob. Beim Verlassen der Verfassungsgebenden Versammlung nach dem künftigen Regierungssystem der jungen USA befragt, antwortete Benjamin Franklin vieldeutig: "Eine Republik - sofern ihr sie bewahren könnt." Es ist diese Aufgabe der Verteidigung demokratischer Überzeugungen gegen wütende Angriffe aus allen Richtungen, die heute so dringend und vielschichtig erscheint wie selten zuvor.