Je mehr der IS in Syrien und im Irak unter Druck gerät, desto größer scheint die Terrorgefahr zu werden.
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Wien. Die bislang letzte Nachricht, dass Abu Bakr al-Baghdadi, der Führers der Terrormiliz "Islamischer Staat", noch lebt, stammt vom US-Verteidigungsminister. "Ich glaube, Baghdadi ist noch nicht tot. Wir würden es mit Sicherheit wissen, wenn es uns gelungen wäre, ihn zu töten", kommentierte John Mattis Ende Juli Berichte russischer Quellen, demnach Baghdadi "zu 100 Prozent" nicht mehr am Leben sei.
Angesichts der erschreckenden Zunahmen von Terroranschlägen wie nun in Barcelona, zu denen sich der sogenannte "Islamische Staat" (IS) bekennt, dürfte sich nun das Interesse am Los des Terror-Führers wieder intensivieren. Denn eine beängstigende Theorie kursiert seit zwei Jahren unter Experten: Je mehr der IS in seinem Territorium, in Syrien und dem Irak unter Druck gerät, desto unberechenbarer und auch gefährlicher drohen die Anhänger der Gruppierung zu werden.
In Windeseile schrumpft derzeit das noch von der Terrormiliz kontrollierte Gebiet. Nach dem Fall der IS-Hochburg Mossul im Irak geht in diesen Tagen die Offensive weiter: Die syrisch-irakische Grenzstadt Tal Afar ist im Visier; so auch Der ez-Zor und die Hauptstadt des IS, Rakka in Syrien. Seit Wochen sind die Kämpfer dort eingeschlossen. Die Offensive hier wird von den "Syrian Defense Forces" (SDF), einer vor allem aus kurdischen Kämpfern bestehenden Miliz unternommen. Als "abgemagert, desillusioniert, so vollgepumpt mit Amphetaminen, dass sie ihren Erschöpfungszustand nicht wahrnehmen", wurden von diesen Kräften die flüchtenden IS-Kämpfer erst vor wenigen Tagen beschrieben. Solche Berichte sollen die mächtige Propaganda des IS konterkarieren.
Eroberungsfeldzug diente vor allem der PR
Und diese ist derzeit effizienter denn je. Selbst die Führer der Terrormiliz, die am Höhepunkt ihrer militärischen Stärke circa 60.000 Kämpfer unter Waffen hatten, wussten: Sie werden die Hälfte des Staates Syriens und ein Drittel des Iraks niemals langfristig halten können.
Der Eroberungsfeldzug war eine Werbekampagne, um Dschihadisten auf der ganzen Welt für ihre Sache zu gewinnen. Der Zusammenbruch des Staates war immer Teil des Narrativs: Als Gelegenheit eingeplant, das Image der "mutigen Löwen", die sich gegen die gesamte Welt zur Wehr setzen, zu verankern.
Erst vor wenigen Wochen wandte sich Abu al-Hassan al-Muhajir, der Propaganda-Chef des IS, an globale Mitstreiter: "An unsere Glaubensbrüder in Europa, Amerika, Russland und Australien: Nehmt Euch ein Beispiel an den mutigen Kämpfern in Syrien und Irak und an anderen Attentätern und schlagt zu!" Solche Kampfreden werden mit sehr exakten Anweisungen flankiert, etwa, wie man mit Lkw und anderen Fahrzeugen Menschengruppen attackieren könnte.
Bereits im Dezember 2014 stellte der mittlerweile getötete Sprecher Mohammed al-Adnani, die Weichen für eine Neuausrichtung des IS. "Bleibt in euren Heimatländern. Greift von dort aus an, kommt nicht mehr zu uns", lautete seine damalige Nachricht.
Besorgniserregend ist zudem, dass sich die Angriffe nicht nur häufen, sondern dass der mutmaßliche Attentäter von Barcelona, der 18-jährige Moussa Oukabir, kein Einzeltäter war, der nur über Internet-Botschaften radikalisiert wurde, sondern Teil einer mindestens zehnköpfigen Zellenstruktur war.
Dies könnte darauf hinweisen, dass sich außerhalb des Kerngebiets neue Hochburgen mit eigenen Strukturen bilden. Bereits 2014 gab es Hinweise, dass IS-Sprecher al-Adnani dabei war, eine europäische Struktur aufzubauen - dies vor allem, um "Racheakte" bei einem möglichen Zusammenbruch des Staates in Nahost vorzubereiten.
Noch ist es aber nicht so weit. In dem Bekennerbrief stellte der IS über seine Website "Amaq" auch einen klaren Bezug zu den Angriffen auf die Terrormiliz her. So wird als Grund für das Anschlagsziel Spaniens Beteiligung an der internationalen Militär-Koalition genannt, die mit Luftschlägen gegen den IS in Syrien und dem Irak vorgeht.
Die Rückkehrer als große Gefahr
Mit dem Führer der Gruppe, Abu Bakr al-Baghdadi, haben sich schon vor Wochen die hochrangigen IS-Kader in abgelegene Regionen entlang des syrisch-irakischen Grenzgebiets zurückgezogen. Mehrere ranghohe Kommandanten konnten mit gezielten Raketentreffern getötet werden; von den Kämpfern dürfte noch höchstens ein Drittel am Leben sein.
"Die Kommandostrukturen sind aber noch intakt", hieß es in einem Bericht, den am 7. August UN-Experten dem UN-Sicherheitsrat vorlegten. Gewarnt wurde in dem Bericht auch von der Gefahr, dass die Gruppe nach wie vor in der Lage sei, Anschläge im Ausland zu verübten.
Gleichzeitigen werden in dem Bericht Bedenken von Experten zitiert, dass Rückkehrer aus dem Nahen Osten in Europa nun zu einer weiteren Gefahrenquelle werden können. Mindestens 5000 meist junge Europäer haben sich als ausländische Kämpfer dem IS angeschlossen. "Es gibt Hinweise darauf, dass einige, die jetzt zurückgekehrt sind, mit klaren Anweisungen in ihre Heimat kommen: Sie sollen bislang Unverdächtige anwerben und sie zu Attentaten anstiften."
Ein militärisches Ende des IS im Syrien und dem Irak ist deshalb nur begrenzt eine gute Nachricht. Das Ende des IS, wie die Welt ihn seit 2014 kennt und fürchtet, könnte der Anfang einer neuen - möglicherweise noch gefährlicheren - Metamorphose der Gruppe sein.
Petra Ramsauer ist Journalistin und Autorin. Sie berichtet immer wieder aus den Krisenregionen des Nahen Ostens, die sie regelmäßig bereist. Zuletzt veröffentlichte die Trägerin des Concordia-Preises das Buch "Siegen heißt, den Tag überleben: Nahaufnahmen aus Syrien" (Verlag Kremayr & Scheriau).