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Ein neuer Versuch des EU-Parlaments, das EU-Wahlrecht zu reformieren, der ans politisch Eingemachte geht.
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Am Dienstag stimmte das EU-Parlament über ein neues Wahlrecht auf EU-Ebene ab. Anders als bei den bisherigen drei Versuchen (1998, 2011 und 2018) konnte man sich diesmal auf die Einführung transnationaler Listen und ein stärker harmonisiertes europäisches Wahlrecht einigen. Das EU-Parlament hat eine Reform auf den Weg gebracht, um aus 27 getrennten Wahlen mit unterschiedlichen Regeln endlich eine einheitliche EU-Wahl zu machen.
Nach einer Debatte am Montag - bei der sich von den 19 österreichischen EU-Abgeordneten übrigens lediglich Roman Haider von der FPÖ zu Wort meldete - wurde am Dienstag ein legislativer Initiativbericht angenommen. Dessen Ziel ist die Überarbeitung der Vorschriften für die alle fünf Jahre stattfindende EU-Wahl. Der Vorschlag wurde mit 323 zu 262 Stimmen bei 48 Enthaltungen und die dazugehörige Entschließung mit 331 zu 257 Stimmen bei 52 Enthaltungen angenommen - knapper als erwartet.
Das EU-Parlament schlägt ein Zweistimmensystem vor: wie bisher eine Stimme für die Wahl der EU-Abgeordneten in den einzelnen Mitgliedstaaten und - neu - eine zweite für einen neu geschaffenen EU-weiten Wahlkreis, in dem 28 Sitze des EU-Parlaments vergeben werden sollen. Für diese 28 quasi zusätzlichen Sitze muss übrigens weder ein Mitgliedsland auf EU-Abgeordnete verzichten noch wird die Gesamtzahl der 751 Mandate erhöht - sondern es sind durch den Brexit freigewordene Sitze.
Zur Erinnerung: Durch den Austritt des Vereinigten Königreichs wurden 73 Abgeordnetenplätze frei. 27 davon wurden auf die bisherigen EU-Staaten verteilt, um das Verhältnis zwischen kleinen, mittleren und großen EU-Mitgliedern zu schärfen. Österreich kam auf diesen Weg etwa zu einem weiteren Mandat im EU-Parlament. Dieses übernahm durch Nachrücken bekanntlich der Grüne Thomas Waitz. Von den noch verbliebenen 46 freien Sitzen sollen eben nun 28 über diesen neuen einheitlichen EU-Wahlkreis vergeben werden. 18 Sitze würden damit weiterhin unbesetzt bleiben. Sie dienen quasi als "stille Reserve" für eine allfällige EU-Erweiterung. Denn neue Mitgliedstaaten würden natürlich auch Sitze im EU-Parlament benötigen, und die große Sitzumverteilung würde von Neuem beginnen.
Transnationale Wahllisten
Um auf den transnationalen Wahllisten für diese 28 Mandate eine Form der geografischen Ausgewogenheit zu schaffen, sollen die EU-Mitgliedstaaten je nach ihrer Bevölkerungszahl in drei Gruppen eingeteilt werden. Österreich würde dabei etwa in die mittlere Gruppe jener Staaten fallen, deren Bevölkerungszahl zwischen 6,9 und 19,3 Millionen liegt. Auf diesen Listen sollen dann Kandidatinnen und Kandidaten aus diesen drei Staatengruppen proportional vertreten sein. Die Einreichung dieser EU-weiten Kandidatenlisten sollen von europäischen Wahleinheiten wie Bündnissen einzelstaatlicher Parteien oder einzelstaatlicher Wählervereinigungen bzw. von europäischen Parteien möglich sein.
Aber nicht nur für die geografische Ausgewogenheit dieser EU-weiten transnationalen Wahllisten wird vorgesorgt. Das EU-Parlament möchte auf diesem Weg auch gleich gegen das noch immer existierende Geschlechtergefälle in seinen Reihen vorgehen. Denn trotz der allgemeinen Verbesserung der Geschlechterparität bei der letzten Wahl im Jahr 2019 wurde in einigen EU-Staaten keine einzige Frau ins Europäische Parlament gewählt. Das Parlament schlägt daher verbindliche Listen nach dem Reißverschlusssystem (also abwechselnd weibliche und männliche Kandidaten) oder Quoten vor. Gleichzeitig sollen die Rechte nicht-binärer Menschen dabei jedoch nicht verletzt werden. Wie dies in der Realität dann umgesetzt werden soll, bleibt nach dem aktuellen Vorschlag noch ein wenig unklar. Aber allein das vorgesehene Reißverschlusssystem wird sicherlich noch genügend Stoff für die politische Diskussion bieten.
Weitere Vereinheitlichung
Um die Wahl EU-weit einheitlicher zu gestalten, wird außerdem Folgendes vorgeschlagen:
- Der Europatag (9. Mai) soll zukünftig als EU-weiter Wahltag fungieren. Damit würde die bisherige Praxis, wonach die Wahl zum EU-Parlament an verschiedenen Tagen - jeweils nach den nationalen Gepflogenheiten - stattfindet, beendet. Künftig soll also EU-weit einheitlich an einem Tag zur Wahlurne geschritten werden. Für Österreich würde dies etwa bedeuten, sich vom traditionellen Wahlsonntag zu verabschieden.
- Ein verbindliches passives Wahlrecht für alle Europäerinnen und Europäer ab 18 Jahren. Auch hier käme es zu einer Harmonisierung der bisher national unterschiedlichen Regeln.
- Eine verbindliche Sperrklausel von 3,5 Prozent für Wahlkreise, in denen mindestens 60 Sitze vergeben werden. Über mindestens 60 Sitze verfügen lediglich Deutschland, Frankreich und Italien. Da Frankreich und Italien jedoch bereits solche Hürden besitzen beziehungsweise ihre Mandate über mehr als einen Wahlkreis vergeben, betrifft dieser Vorschlag in der Realität nur Deutschland. Dort wurde bekanntlich vom Bundesverfassungsgerichtshof im Vorfeld der letzten Europawahl die bestehende nationale Sperrklausel aufgehoben. Was dazu führte, dass diversen Kleinst- und Spaßparteien der Einzug ins Europaparlament gelang. Die Entscheidung des Gerichts in Karlsruhe lässt jedoch explizit die Möglichkeit einer Sperrklausel durch EU-Regelung zu. Damit sollte der politischen Diskussion in Deutschland über die Vereinbarkeit der jetzigen Vorschläge mit dem deutschen Grundgesetz ein zentrales Argument entzogen sein.
- Der Vorschlag fixiert den gleichen Zugang zu den Wahlen für alle, auch für Menschen mit Behinderungen, sowie die EU-weite Einführung der Möglichkeit zur Briefwahl. Bis jetzt ist dieses Instrument nämlich in 13 EU-Mitgliedstaaten nicht vorgesehen.
- Schließlich wiederholt der Vorschlag das Recht der Bürgerinnen und Bürger darauf, den EU-Kommissionspräsidenten nach dem Spitzenkandidatensystem über EU-weite Listen zu wählen. Eine Forderung, die in ähnlicher Weise - jedoch ohne dem Instrument transnationaler Listen - bereits im Vorschlag zur Wahländerung im Jahr 2018 vorgesehen war.
Bürokratische Vorkehrungen
Zur Einhaltung des Verfahrens soll außerdem eine neue Europäische Wahlbehörde eingerichtet und ein EU-weites einheitliches und gemeinsames Wahlregister geschaffen werden. Mit letzterem soll insbesondere die Möglichkeit doppelter Stimmabgabe in verschiedenen Mitgliedstaaten unterbunden werden. In der Nach-Berichterstattung zur vergangenen Wahl wurde nämlich bekannt, dass diese Möglichkeit immer wieder besteht und auch genutzt wird. Besondere mediale Beachtung erlangte etwa der Herausgeber einer bekannten deutschen Wochenzeitung, der sich rühmte, seine Stimme sowohl in Deutschland wie auch in Italien abgegeben zu haben.
Was hier technisch und bürokratisch klingt, geht tatsächlich ans politisch Eingemachte. Immerhin beschäftigt man sich mit einem der schwierigsten Themen überhaupt, weil das jetzt vorgeschlagene Wahlrecht massiv in nationale Bestimmungen eingreift. Im EU-Recht selbst sind nämlich nur einige wenige Rahmenbedingungen geregelt, die für alle Staaten gelten. So werden die Abgeordneten zum Europaparlament seit 1979 direkt gewählt, in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl.
Seit 2004 müssen außerdem alle EU-Mitgliedstaaten den Grundsatz der Verhältniswahl anwenden. Außerdem können sie eine Mindestschwelle von bis zu fünf Prozent der abgegebenen Stimmen festlegen. Ob sie es tun, wie hoch die Schwelle ist - das wird in nationalen Wahlgesetzen geregelt. Ebenso, ob es einen oder mehrere Wahlkreise gibt und ob die Abstimmung an einem Sonntag stattfindet oder schon am vorher gehenden Donnerstag.
Auch die Forderung, den EU-Kommissionspräsidenten über ein Spitzenkandidatensystem auf transnationalen Wahllisten zum Europaparlament zu bestimmen, greift massiv in die politischen Rechte der EU-Mitgliedstaaten ein. Immerhin sind diese noch immer der Ansicht, dass immer noch sie im Europäischen Rat darüber entscheiden, wer für diese Position dem EU-Paparlament zur Wahl vorgeschlagen wird. Das dies der politischen Realität entspricht, zeigt der Rückblick auf die letzte Entscheidung, Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin zu nominieren. Dies fand sich bekanntlich auf keiner der Wahllisten. Auch das vom EU-Parlament so vehement eingeforderte Spitzenkandidatensystem fand 2019 dabei keine Beachtung.
Nächste Schritte
Nach Artikel 233 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union müsste die Gesetzesinitiative des Parlaments vom Rat einstimmig angenommen werden (auch wenn eine lachsfarbene Österreichische Qualitätszeitung anderes verbreitet und stolz verkündet: "20 von 27 Mitgliedsstaaten müssen der Reform zustimmen"). Danach würde sie wieder dem Parlament vorgelegt, damit es seine Zustimmung erteilt, und anschließend müsste sie von allen Mitgliedstaaten im Einklang mit ihrem jeweiligen Verfassungsrecht gebilligt werden. Die Verhandlungen mit dem Rat beginnen, sobald die EU-Mitgliedstaaten ihren Standpunkt festgelegt haben. Inwieweit dies mit der Ankündigung des EU-Parlaments realistischerweise vereinbar ist, dass all die vorgeschlagenen Änderungen zeitgerecht für die Europawahl 2024 durchgeführt werden sollten, scheint mehr als fraglich. Denn selbst die bereits 2018 auf den Weg gebrachten Änderungen und Anpassungen sind bis heute nicht vollständig umgesetzt und in Kraft.