Nach über einem Jahr in Haft in der Türkei wird der deutsche Journalist Deniz Yücel entlassen.
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Istanbul. Am 9. Dezember 2017, genau 300 Tage nach seiner Verhaftung, hatte Deniz Yücel einen Brief geschrieben. In dem mehrere Seiten langen Schreiben beschreibt der deutsch-türkische Journalist seinen Gefängnisalltag zwischen Hofgängen und den Naturfilmen, die im Doku-Kanal des Staatssenders laufen. Ebenso erzählt der Korrespondent der deutschen Tageszeitung "Die Welt" von seiner Freude darüber, dass die monatelange Isolationshaft nun hinter ihm liegt und er mit dem ebenfalls im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9. einsitzenden türkischen Journalisten Oguz Usluer zumindest einen Gesprächspartner hat. Den meisten Platz nehmen allerdings Yücels Antworten auf all die Briefe ein, die er aus Deutschland bekommen hat. Immer wieder bedankt er sich dafür, dass man ihn nicht vergessen hat, dass der Kampf für seine Freilassung in der Öffentlichkeit noch immer breite Unterstützung genießt.
Dass der gesellschaftliche und politische Druck in Deutschland nie nachgelassen hat, dass es so gut wie keine Türkei-Debatte ohne den Fall Yücel gab, hat sich für den 44-Jährigen nun bezahlt gemacht. Am Freitag, ein Jahr und zwei Tage nach seiner Inhaftierung, wird Yücel freigelassen. Seine Frau Dilek, die er im April im Gefängnis geheiratet hat, damit sie ihn besuchen kann, nimmt den sichtlich von der Haft gezeichneten und abgemagerten Reporter vor den Mauern der Haftanstalt in Empfang.
Yücel wird an diesem Freitag aber nicht nur erlaubt, das Gefängnis zu verlassen, sondern auch die Türkei. Denn das Verfahren, in dem Yücel wegen seiner Berichte über die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK die Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen wird, läuft zwar weiter. Doch obwohl nun erstmals auch eine Anklageschrift vorliegt und die Staatsanwaltschaft 18 Jahre für Yücel fordert, verhängt das zuständige Gericht keine Ausreisesperre.
Noch am Freitag verließ Yücel die Türkei. Wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP in Istanbul berichtete, hob ein Flugzeug mit dem "Welt"-Korrespondenten an Bord am Atatürk-Flughafen ab. Am Freitagabend landete es auf dem Flughafen Berlin-Tegel.
Vorausgegangen sind Yücels Freilassung umfangreiche diplomatische Geheimverhandlungen. So hat sich der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" in den vergangenen Wochen zwei Mal persönlich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan getroffen. Beim ersten Gespräch am Rande vor Erdogans Papst-Besuch in Rom soll Gabriel um Yücels Freilassung gebeten haben und dabei auch sehr deutlich gemacht haben, dass es ohne diesen Schritt keine Verbesserung des schwer belasteten deutsch-türkischen Verhältnisses geben wird. Eine Woche später reist der Außenminister dann auf Bitten der türkischen Seite nach Istanbul, um mit Erdogan in dessen Residenz die Einzelheiten einer möglichen Lösung des Falls zu besprechen.
Ein Konfliktfeld weniger
Öffentlich ersichtlich wird das mögliche Einlenken der Türkei im Fall Yücel dann Mitte dieser Woche. Noch bevor er die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag in Berlin trifft, stellt der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in einem ARD-Interview die Freilassung Yücels in den Raum und verspricht eine "Entwicklung in kurzer Zeit".
Dass Yücel nur zwei Tage später tatsächlich freigelassen wird, dürfte vor allem damit zu tun haben, dass die Probleme, die die Türkei mit anderen Staaten hat, zunehmen. So sind die Beziehungen zu den USA wegen des Streits um die amerikanische Unterstützung der syrischen Kurdenmiliz YPG zuletzt so sehr eskaliert, dass selbst eine militärisches Konfrontation der beiden Nato-Partner nicht mehr ausgeschlossen schien. Ebenfalls deutlich verschlechtert haben sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel, seit US-Präsident Donald Trump Jerusalem als Hauptstadt anerkannt hat und sich Erdogan in dieser Sache als Fürsprecher der muslimischen Welt positioniert. Nur logisch scheint es daher also, dass man sich in Ankara derzeit bemüht, zumindest einen der vielen Krisenherde zu befrieden. Umso mehr gilt das wohl, seit der Konflikt mit Deutschland seinen innenpolitischen Nutzen für Erdogan verloren hat. Denn anders als im Frühjahr 2017 muss der türkische Präsident heute kein Verfassungsreferendum mehr gewinnen und kann daher auf patriotische Mobilisierungskampagnen oder Nazi-Vorwürfe verzichten.
Lebenslang für Altan-Brüder
Doch selbst wenn mit der Freilassung Yücels nun der schwerste Brocken aus dem Weg geräumt ist, wird sich die Rückkehr zu normalen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland wohl als schwierig erweisen. So drücken viele deutsche Politiker am Freitag nicht nur ihre Erleichterung über die Entlassung des "Welt"-Korrespondenten aus, sondern fordern auch dazu auf, im Überschwang der Gefühle die grundsätzlichen Probleme nicht aus den Augen zu verlieren. "Nach einem Jahr eine befreiende Nachricht... nach Deniz dürfen wir die anderen politisch Inhaftierten in der Türkei nicht vergessen", twittert etwa FDP-Chef Christian Lindner. Eine scharfe Warnung kommt zudem vom bekannten türkischen Journalisten Can Dündar. Der Fall Yücel werde negative Folgen haben, "weil Erdogan nun weiß, dass es möglich ist, über inhaftierte Journalisten zu verhandeln", sagt der in Berlin im Exil lebende Ex-Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet".
Dass solche Bedenken berechtigt sind, zeigt sich am Freitag bereits unmittelbar nach Yücels Entlassung. Denn während Yücel in Istanbul seine ersten Stunden in Freiheit genießen kann, werden in Ankara die international bekannten türkischen Journalisten Ahmet und Mehmet Altan, Nazli Ilicak sowie drei weitere Kollegen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Ihnen hat die Staatsanwaltschaft vorgeworfen, bereits im Vorfeld von dem Putschversuch im Juli 2016 gewusst zu haben. Beweise dafür wurden in dem alle Instanzen beschäftigenden Verfahren allerdings nicht vorgelegt.