Wien scheint keine großen Chancen als neuer Standort von Arzneimittelbehörde oder Bankenaufsicht zu haben.
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Wien. Die Brexit-Uhr tickt, am 29. März 2019 scheidet Großbritannien aus der EU aus. Ob das Land jene rosige Zukunft erwartet, welche die Austrittsbefürworter sehen, wird sich weisen. Mit Sicherheit aber gehen London die dort ansässigen EU-Agenturen verloren: die Arzneimittelbehörde EMA und die Bankenaufsichtsbehörde EBA. 19 Städte bewerben sich um die EMA, 8 um die EBA. Wien hat für beide Agenturen Offerte gelegt. Am 20. November fällen die EU-Außenminister die Standortentscheidungen - kein Kandidat erhält beide Agenturen.
"Es ist ein beinharter Kampf. Wien liegt in der informellen ersten Gruppe um die EMA", sagt Gregor Woschnagg zur "Wiener Zeitung". Er lobbyiert seit Monaten im Auftrag von Kanzleramt, Ministerien und der Stadt, war er doch Ständiger Vertreter bei der EU von 1999 bis 2007, damit zentraler Verbindungsmann zu den EU-Institutionen und entsprechend gut vernetzt. Ihm zufolge seien Kopenhagen, Amsterdam, Barcelona, Mailand und Bratislava ebenso Teil der ersten Gruppe.
Die Agenturen nennt Woschnagg "Filetstücke" des Brexit. Denn die EMA ist für mehr als ein Viertel der weltweiten Medikamentenzulassung verantwortlich. Knapp 900 Personen arbeiten dort. Für den Tourismus- und Messestandort Wien sind die Kongresse und Geschäftsreisen attraktiv. Dazu gesellt sich die Hoffnung, dass sich nach einem Zuschlag weitere Pharmakonzerne ansiedeln. Die Agenturen sind also nicht nur prestigeträchtig, sondern auch rentabel. So lässt sich verschmerzen, dass Österreich der EMA ein Bürogebäude zum symbolischen Mietpreis von einem Euro pro Jahr überlässt. Und das ein Vierteljahrhundert lang.
Offizielle Kriterien für die Bewerber sind: Gebäude, Zugänglichkeit, Bildungseinrichtungen, Arbeitsmarkt, Sozialversicherung und medizinische Versorgung, Kontinuität der Geschäftstätigkeit und geografische Ausgewogenheit. Aber natürlich fällt die aktuelle politische Lage ins Gewicht. So gelte die Bewerbung Warschaus aufgrund des rabiat antieuropäischen Kurses der nationalkonservativen Regierung in Polen als chancenlos, berichtet ein Insider. Umgekehrt kämpfe Spaniens Regierung für Barcelona und will demonstrieren, dass sie trotz der Sezessionsbestrebungen in Katalonien zur Stadt halte.
Mehrfach wurden zuletzt Mailand und Bratislava als Favoriten für die EMA genannt. Die "Financial Times" schreibt, sollten technische, organisatorische und logistische Aspekte berücksichtigt werden, würde sich die italienische Metropole durchsetzen. Falls geopolitische Kriterien überwiegen, habe Bratislava beste Chancen. Denn die Slowakei zählt mit Rumänien und Bulgarien zu den drei Ländern Ostmitteleuropas, die keine EU-Agentur beherbergen. "Wir erwarten eine bestimmte Fairness", sagte der slowakische Europastaatssekretär Ivan Korcok. Laut Austria Presse Agentur könnten Deutschland und Frankreich Bratislava als EMA-Sitz unterstützen. Gegenleistung sei Frankfurt als Standort der EBA und eine personelle Aufstockung der in Paris ansässigen Wertpapieraufsicht ESMA.
Woschnagg kontert mit strukturellen Problemen Bratislavas: Unter den EMA-Mitarbeitern seien viele Frauen. Sie würden auf gute Schulen und hohe Lebensqualität viel Wert legen - und keine Lust auf eine ostmitteleuropäische Stadt haben. "Diese Personen sind hochqualifiziert und bekommen sofort einen Job in der Pharmaindustrie. Wenn sie nicht mitziehen, ist die EMA über Jahre geschwächt. Noch dazu verdienen die Mitarbeiter in London derzeit 40 Prozent mehr als in Brüssel, in Bratislava wären es nur 73 Prozent des Basiswertes. Sie würden also nur mehr die Hälfte verdienen", sagt Woschnagg.
Doch stimmen die Gerüchte, hätte Bratislava seinen Unterstützerkreis entscheidend erweitert. Bisher haben sich lediglich die anderen Visegrad-Länder Polen, Tschechien und Ungarn hinter die slowakische Hauptstadt gestellt. Andere Kandidaten verfügen ebenfalls über traditionelle Seilschaften, etwa die Beneluxländer, die nordischen Staaten inklusive den Balten und der "Club Med" der südlichen Staaten. "Es ist sehr schwierig, in diesem feingesponnenen Gewebe durchzudringen", sagt Woschnagg.
Heißt übersetzt: Wien verfügt über nur wenige klassische Verbündete. Der Lobbyist sieht es als Erfolg an, dass die Stadt überhaupt in der ersten Gruppe genannt wurde. Siegchancen hören sich anders an. Bundeskanzler Christian Kern sagte im Oktober gar: "Unsere Chancen sind intakt, überbordend allerdings nicht."
Noch schlechter als bei der EMA könnten sie bei der Bankenaufsichtsbehörde stehen. Zwar hat die Wirtschaftsagentur Wien für die EMA eine eigene Webseite erstellt, Mitarbeiter finden dort Informationen über internationale Schulen und die hohe Lebensqualität der Stadt. Für die EBA und ihre Angestellten gibt es aber keine entsprechende Webseite. Warum nicht? "Dazu kann und darf ich nichts sagen", heißt es auf Anfrage bei der Wirtschaftsagentur. "Deutschland drückt sehr stark für Frankfurt. Dort soll eine Symbiose mit der Europäischen Zentralbank entstehen. Andere Länder sind aber entschieden für eine räumliche Trennung von EZB und EBA", erklärt Woschnagg.
Gleich, wer zum Zug kommt, das Ende der britischen EU-Mitgliedschaft bedeutet in den ausgewählten Städten einen Anfang. Spätestens am 29. März 2019 bezieht die Belegschaft von EMA und EBA ihre neuen Büros.