Viele Flüchtlinge sitzen in Griechenland fest. Sollte die Türkei die Grenzen wieder öffnen, stünde der Kollaps bevor.
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Athen. Der Elleniko sieht genauso aus, wie man sich einen aufgelassenen und verlassenen Hauptstadtflughafen vorstellt. Einst das stolze Athener Tor zur Welt, ist er nun eine einsame Asphaltwüste mitten in verwilderter, sonnengeplagter Natur. Hinter verrostetem Stacheldraht kämpfen desolate Gebäude mit eingeschlagenen Scheiben gegen die Schwerkraft; das Areal ist geprägt von herumliegenden Reifen und sonstigem Unrat. Ein vor sich hin rottendes Auto, aus dem ein Baum wächst, macht die postapokalyptische Stimmung perfekt. Daneben noch ein ausrangierter Jumbo-Jet - es stellt sich die Frage, warum die Neuauflage des Endzeitknüllers Mad Max nicht hier gedreht wurde. Doch die Athener Stadtregierung hat sich eine andere Art der Zwischennutzung überlegt: Hier, irgendwo auf dem Areal, das so weit reicht, wie das Auge sehen kann, haben Flüchtlinge eine vorläufige Unterkunft gefunden. Sie zu finden gestaltet sich von der U-Bahn-Station des Flughafens allerdings schwieriger, als man meinen möchte.
Der Zaun, der das Gelände umgibt, ist lang und wird bei 37 Grad im kaum vorhandenen Schatten immer länger; schier endlos. Irgendwann wird klar, dass der einzig erfolgversprechende Weg über vereinzelte Gässchen führen muss, die in Richtung des Inneren des Flughafenareals weisen. Spätestens nach der dritten Sackgassen-Falle überlegt man sich zwei Mal, wie vielversprechend eine Route auf dem brennenden Asphalt ist. Nach dem Weg fragen kann man in dieser entvölkerten Zone ohnedies niemanden. Einzig das riesige Radar dreht sich hoch oben auf dem Turm, wie ein stummer Hilfeschrei des letzten Überlebenden.
In dieser Einöde unter drückender Hitze kommt kurz Flüchtlingsfeeling auf - auch wenn der Vergleich natürlich unangebracht ist. Auf Schritt und Tritt prangen überdimensionale Verbotsschilder: Nicht betreten, nicht fotografieren, nicht, was auch immer dort auf Griechisch steht. Ist es überhaupt legal, hier entlang zu gehen? Fast zwei Stunden, die eine ganz leise Ahnung davon vermitteln, wie es sein muss, monatelang einem ungewissen Ziel nachzugehen - und das dann noch unter Gefahr für Leib und Leben.
Schließlich gelangt man an eine Hauptstraße, wo die Reise erfolglos zu Ende sein scheint. Doch dann, endlich, taucht ein Paar mit Kleinkind auf. Schlichte Kleidung, asiatisch-arabisches Aussehen und Kopftuch suggerieren, dass es sich um Migranten handeln könnte.
Ja, sie seien aus dem Flüchtlingslager, sagen die beiden in gebrochenem Englisch und strahlen wie die aufgehende Sonne. Es sei gar nicht weit. Auf dem Weg berichten sie von ihrem Schicksal. Vor sieben Monaten sind sie aus dem Süden Afghanistans aufgebrochen. Das Kind, das der Mann in seinen Armen hält, legt die Vermutung nahe, dass die Flucht ziemlich bald nach der Entbindung begonnen haben muss - zu Fuß, wie sie erklären. Seine Eltern wagten das Unterfangen nicht, ihre restliche Familie schaffte es nur bis in den Irak.
Nach einem kurzen Marsch taucht es schließlich auf, das Flüchtlingslager Ellinko. Nur einen Steinwurf entfernt vom prestigeträchtigen Golf Club Glyfada. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Hier schwingen Botschafter mit Ministern und Wirtschaftsmagnaten die Eisen, dort fristen Flüchtlinge ohne Habe ihr Dasein.
Flüchtlinge sind in Griechenland gefangen
"Wie heißt Du?", fragt das Empfangskommittee in Person eines vielleicht zehnjährigen Buben. "Ich heiße Ali, es ist mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen" sagt er auf Englisch und grinst, als hätte er gerade in der Lotterie gewonnen. Ausgesuchte Höflichkeit an einem rauen Ort. Verfallene Gebäude, ein Kiosk, ein Würstelstand, viel mehr hat der Ort nicht zu bieten. Wer von den Flüchtlingen im alten Flughafengebäude keinen Platz mehr gefunden hat, hat seine Zelte unter dem Vordach oder gleich im Freien aufgeschlagen.
13 Nasen zählt Alis Mischpoche. Der Bub ist Übersetzer, Organisator und ganzer Stolz der Familie. "Griechenland ist nicht gut", erklärt er. Deutschland sei das Ziel. Enttäuschung macht sich breit, als er erfährt, dass man da nicht viel tun kann. Nicht zuletzt deshalb, weil die sogenannte Balkanroute im März geschlossen wurde, über die Flüchtlinge nach Mittel- und Nordeuropa gelangten.
Das hat allerdings auch dazu geführt, dass viele nun in Griechenland praktisch gefangen sind. Zu ihnen gehört Mohammed Sediq Atayee. Auch er ist freundlich, selbst wenn das, was er zu erzählen hat, es nicht ist. Vor sieben Monaten startete er seine Flucht aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. Erst vor wenigen Tagen haben dort Terroristen vom IS einen Doppelanschlag mit mindestens 80 Toten verübt. "Du lebst in permanenter Angst. Wenn du in die Stadt gehst, kann sich jederzeit neben dir ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengen", berichtet Mohammed. Also machte sich der Student der Öffentlichen Verwaltung als einziger der Familie auf, um mit Freunden und unter Führung eines Schleppers das sichere Europa zu erreichen.
Sehnsucht nach einer Waschmöglichkeit
"Alle Flüchtlinge, die ich kenne, sind mit einem Schlepper nach Europa gekommen. Anders schaffst du das auch gar nicht, das beginnt schon damit, dass du als Flüchtling nicht offen auf die Straße gehen kannst. Du wirst ja sonst entdeckt und sofort herausgefischt." 5000 Euro - ein kleines afghanisches Vermögen - haben ihn diese Helfer insgesamt gekostet. "Es kommt darauf an, wie du ausschaust. Manchmal verlangt ein Schlepper 500 Euro, dann wieder 2000."
Die Kälte und der Schmutz, daran erinnert sich Mohammed noch heute mit Grauen, wenn er an die beschwerliche Reise denkt. 20 Stunden am Tag, bis zum Umfallen marschieren, ohne Gelegenheit, die Kleidung zu waschen. Das ist nun anders. Die Möglichkeit, sich und sein Gewand zu waschen, gehört zu den kleinen Freuden in Mohammeds Leben. Ebenso wie die Tatsache, dass er mittlerweile im Besitz ordentlicher Papiere ist. Auch sein Freund und syrischer Namensvetter Mohammed Ali ist Flüchtling in Athen und grundsätzlich glücklich, es lebendig nach Europa geschafft zu haben. Er stammt aus Damaskus, wo er bis vor einem Jahr Englisch studierte. "Egal, woher aus Syrien du bist: Wenn du männlich und zwischen 18 und 40 Jahren alt bist, musst du kämpfen. Ich aber wollte nicht kämpfen", erklärt der 26-Jährige. Eines allerdings berichten beide Mohammeds, nämlich, dass viele Flüchtlinge die Türkei nicht freiwillig über den Seeweg verlassen haben.
Zur Überfahrt nach Griechenland gezwungen
"Damals hatte ich das erste Mal auf meiner Flucht wirklich Angst", erzählt der Afghane. Allein die Vorstellung, zu 50 in dem motorisierten Schlauchboot zu sitzen, war ein Wahnsinn. "Versuch das einmal nur im Trockenen und schau, ob du soviele Menschen darin unterbringst", sagt sein syrischer Namensvetter. "Und dann gib noch Wasser und Wellen dazu." Doch die bewaffneten Schlepper seien gnadenlos gewesen.
"Die haben Warnschüsse abgegeben und gebrüllt, dass wir sofort ablegen müssen", erinnert sich Mohammed Ali. "Bei mir waren auch Frauen mit Babys dabei", sagt Mohammed Atayee. "Die haben um ihr Leben geweint, weil sie nicht schwimmen konnten, doch die Schlepper kannten keine Gnade."
Auch wenn man auf türkischer Seite von solchen Geschehnissen nichts weiß, sind viele Flüchtlinge überzeugt, dass der Flüchtlingsstrom in der Türkei über eine mafiöse Zusammenarbeit zwischen Polizei, Behörden und Schleppern reguliert wird. "Unser Schlepper war über das Handy mit der Polizei in Kontakt", bestätigt Mohammed Ali. Und auch griechische Behörden kennen diese Berichte. Das System, das beschrieben wird, klingt sehr perfide. Flüchtlinge wurden mit der Aussicht auf umgerechnet 500 Euro nach Istanbul gelockt. Dort wurden sie mit dem Geld in einen Bus gesetzt, der sie an die Küste nach Izmir brachte. Doch auf der Strecke kam es zu Polizeikontrollen, bei denen den Flüchtlingen jedes Mal rund 150 Euro abgeknöpft wurden. Das ganze endete schließlich ohne Geld an einem Strand und den beschriebenen Nötigungen zum Übersetzen nach Griechenland.
Ob wahr oder nicht: Solche Szenen dürfte es aufgrund des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei so oder so nicht mehr geben. Es gibt kaum noch registrierte Übertritte, seitdem man sich Ende März darauf geeinigt hat, dass die Türkei alle illegal eingereisten Migranten von den griechischen Inseln zurücknimmt und im Gegenzug die Europäer für jeden dieser Flüchtlinge einen legal in die Türkei gelangten syrischen Kriegsflüchtling aufnehmen.
Die Insel Samos und das Nachbareiland Agathonisi, die vergangenen September und Oktober noch mehr als 25.000 Flüchtlinge pro Monat zu verzeichnen hatten, kamen im Juli gerade einmal auf 36. Ein Erfolg? Von den Zahlen her sicherlich, doch dass dies eine vertretbare Lösung ist, glauben die wenigsten.
Angst vor türkischem Meinungswechsel
"Wenn ich die Realität nicht kennen würde, würde ich sagen: Es ist ein guter Deal", sagte der für Migration zuständige Vize-Bürgermeister von Athen, Lefteris Papagiannakis, auf der internationalen Act.now-Bürgermeisterkonferenz in Athen. Hier gingen Stadtväter, EU-Poltiker, NGOs und andere Experten vergangene Woche der Frage nach, was sich in Sachen Flüchtlingspolitik seit vergangenem Jahr getan hat. "Es ist, als wolle man Wasser aufhalten. Irgendwie bahnt es sich dann doch seinen Weg", führt Papagiannakis aus.
Die derzeitige Situation ist wie der Tanz auf einem Vulkan. "Die Inseln sind fast vollkommen ausgelastet", erklärt Papagiannakis. Das Arbeiten am Limit wird nicht zuletzt durch Unzulänglichkeiten auf EU-Ebene verschlimmert. So wären beispielsweise mehr Helfer von Nöten, um Herr der Lage zu werden. Doch die EU verbiete es derzeit Griechenland wegen der Sparmaßnahmen Leute einzustellen, sagt der Vizebürgermeister. Gleichzeitig hat die EU von den versprochenen 66.000 Syrern, die sie unter den EU-Staaten aufteilen wollte, gerade einmal 1500 umgesiedelt.
Sollte sich die Türkei dazu entschließen, das Abkommen mit der EU aufzukündigen und der Flüchtlingsstrom erneut losbrechen, würde Griechenland keine drei Tage durchhalten, heißt es. Und genau damit hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Vergangenheit wiederholt gedroht.
Doch auch so hat der Deal einen bitteren Beigeschmack. Denn, was Flüchtlinge berichten, macht auch EU-Parlamentarier wie den Österreicher Josef Weidenholzer fassungslos: An der türkisch-syrischen Grenze werden demnach Flüchtlinge systematisch ermordet.
Mohammed Ali berichtet von einer etwa 300 Meter breiten Todeszone. Er hat sie überlebt, eine Frau mit Kind, die mit ihm floh, nicht. "Es gibt Selbstschussanlagen und es gibt Scharfschützen, die dich dort erschießen", erinnert sich Mohammed. Zwei Wochen lang hat er versucht, in der Nacht die Grenze zu passieren. Wichtig sei es, einen guten Schlepper zu haben: "Der kann abschätzen, wann und wo ein Übertritt möglich ist." Doch auch wenn man den Schüssen in dieser Zone entkommt, gilt es noch, an den Grenzsoldaten vorbeizukommen. "Wenn dich die erwischen, wünscht du dir, du wärest tot: Die brechen dir jeden Knochen im Leib und werfen dich zurück über die Grenze nach Syrien." Überwindet man allerdings die Zone und ist außerhalb der Reichweite des Militärs, hat man es fürs erste geschafft. "In der Türkei rührt dich keiner an. Du kannst dort sogar legal arbeiten und eine Wohnung mieten."
Arbeiten, das ist ein sehnlicher Wunsch von Mohammed Atayee in Athen. "Ich möchte mich weiterbilden, ich möchte etwas tun, ich möchte Geld verdienen", sagte er. Ob und wann er seine Familie wiedersehen kann, steht in den Sternen. Denn ihnen (Eltern, drei Brüder, vier Schwestern) hat er von der Flucht abgeraten. "Ich habe ihnen erzählt, wie es war und sie angefleht, nicht ebenfalls zu fliehen." Lieber Bombenterror als Migration nach Europa - die Flüchtlingsstrategie der EU wirkt - oder auch nicht.