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Energie-Luftschlösser und geopolitische Realitäten

Von Wolfgang E. Schollnberger

Gastkommentare

Bei der Energiewende werden viele Zielmärchenbücher geschrieben. Wir müssen dringend etwas ändern, aber vorsichtig und mit Bedacht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Heiz- und Treibstoffkosten steigen ins Astronomische. Viele hoffen auf einen warmen Winter - das ist aber keine nachhaltige Energiepolitik, sondern eher ein Zeichen von Ratlosigkeit, wenn es gilt, die Wirtschaft trotz Corona am Laufen zu halten und gleichzeitig die globale Klimaerwärmung einzudämmen. Die Energiewende ist nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt ein Anliegen von hoher Dringlichkeit. Sie ist notwendig und muss gelingen. Bis jetzt läuft es aber nicht so gut. Die Primärenergieformen, von denen wir weg wollen, decken aktuell 83 Prozent des europäischen Bedarfs: Erdöl 36 Prozent, Erdgas 24 Prozent, Kohle 13 Prozent, Kernkraft 10 Prozent; die Erneuerbaren, mit denen wir unsere Zukunft sehen, decken 17 Prozent: Wind- und Wasserkraft je
7 Prozent, Sonnenenergie 2 Prozent, Biomasse und Geothermie je 0,5 Prozent.

Die Kosten der Erneuerbaren für die gleiche Arbeitsleistung sinken zwar, sind aber noch viel höher als die der Fossilen. Fehlende Planung und weitverbreitetes, unrealistisches Wunschdenken unter Politikern und Experten darüber, wie schnell und radikal wir uns von traditionellen Energieformen ab- und neuen zuwenden können, hindern Fortschritt und treiben Energiepreise hinauf. Viele haben keine Ahnung, wie viel Zeit Planung, Genehmigung, Finanzierung und Durchführung von Energieprojekten brauchen.

Besonders Politiker sind dafür anfällig, Luftschlösser zu bauen, diese als Ziele zu verkaufen und zu glauben, damit sei die Energiewende geschafft. Utopische Ziele werden zum Alibi für Taten. Die Versprechen im Pariser Abkommen von 2015, die Zusagen von Staaten bei der Klimakonferenz 2021 und andere "grüne Pläne" lesen sich wie Zielmärchenbücher. Solchen hehren Zielen und Verpflichtungen fehlen aber gut durchdachte Aktionspläne. Die Wiener Klimaziele sind allerdings ein erster Schritt in die richtige Richtung: Sie setzen nicht nur Ziele, auch wenn manche Fantasie sind, sondern beschreiben auch gute konkreten Maßnahmen. Das ist, was wir jetzt brauchen: machbare Aktionspläne für den lokalen, den regionalen und den europaweiten Bereich.

Biomasse nicht sinnvoll,Atomkraft in Maßen schon

Ein möglicher, realistischer Handlungskatalog als Basis für künftige gemeinsame Projekte europäischer Regierungen und Unternehmen könnte im Kern etwa so aussehen: Zirkularwirtschaft rasch und umfassend ausbauen; Energieverschwendung minimalisieren; Wasserkraft effektiv nutzen, Wind- und Solaranlagen massiv ausbauen; tiefe und seichte Geothermie massiv ausbauen; existierende AKW sicher betreiben und neue nur unter schwersten Sicherheits- und Umweltauflagen zulassen; Erdgasverbrauch sukzessive verringern, Gas aus verschiedenen Quellen (Norwegen, Algerien, Katar, östliches Mittelmeer, Ägypten, Aserbaidschan, Turkmenistan, Nigeria, Russland, USA) beziehen und damit die Abhängigkeit von Russland reduzieren; Ölverbrauch stark einschränken; Kohleverbrauch minimalisieren; Wasserstoff umweltschonend erzeugen und gebrauchen.

Ein ganz wichtiges Element in der Übergangszeit wird der europaweite Aufbau von sich überlappenden und gegenseitig ergänzenden Energiesystemen sein, für ein reibungsloses Umschalten von einer Primärenergiequelle auf eine andere. Das heißt zum Beispiel für die Stromerzeugung, je nach Bedarf möglichst reibungslos von Wind auf Sonne oder Erdgas als Quelle umsteigen zu können.

Biomasse/Holz ist in diesem Handlungskatalog nicht als Energiequelle enthalten: Die "full cycle"-Energiebilanz von der Grundbeschaffung übers Pflanzen, Wachsen und Ernten bis zur Verbrennungsanlage ist, wenn überhaupt, meist nur schwach positiv. Die kurzzeitige Grünhausgasbilanz ist für Holz und viele andere Pflanzen verheerend. Die gegenwärtig in der EU-Taxonomie heftig umstrittene Kernenergie ist aber wegen ihrer CO2-Vorteile in diesen Katalog in beschränktem Maße eingebaut.

Was geschehen sollte, ist ziemlich klar. Viel schwieriger ist das Wann. Unsere heutigen Energiesysteme samt zugehörigen Infrastrukturen sind durch Jahrhunderte in Abhängigkeit von den jeweils zur Verfügung stehenden Technologien gewachsen und an einem wirtschaftlich äußerst effektiven Punkt angekommen. Sie haben der Menschheit gedient und wesentlich dazu beigetragen, dass unser Planet jetzt von fast acht Milliarden Personen bewohnt wird. Aber sie sind nicht umweltfreundlich und bedrohen die Zukunft der Menschheit.

Wir können jedoch nicht aus dem jetzigen System, wie manche es fordern, in zehn Jahren ausbrechen, ohne dass es zu schweren Störungen im globalen Wirtschaftsgefüge und zur Auflösung ziviler Gesellschaftsordnungen käme. Bevor der Beitrag von fossilen Energieformen abgeschaltet werden kann, muss sichergestellt sein, dass Erneuerbare verlässlich in genügender Menge (globales Wirtschaftswachstum eingerechnet) an den richtigen Orten zu erschwinglichen Preisen bereitstehen. Das mahnt zu vorsichtigen, bedächtigen Schritten. Für Alarmismus und von Panik getriebene Handlungen ist da kein Platz.

Auf der anderen Seite weisen uns aber die immer deutlicher werdenden, schauerlichen klimabedingten Folgen einer verlängerten Dominanz fossiler Energieformen darauf hin, dass Eile geboten ist. Das globale Auftauen von Permafrostböden und der damit verbundene massive Ausstoß von Methan in die Atmosphäre sowie das Umschwenken von Meeresströmungen sind besonders gefährliche Kipppunkte. Darüber hinaus zeigt die sich gerade entfaltende Ukraine-Krise, dass Geopolitik die Energiewende in Europa gewaltig beschleunigen könnte.

Primäre Energieformen werden oft an anderen Orten gewonnen als verbraucht. Viele werden über internationale Grenzen hin gehandelt und transportiert. Das gilt für fossile mehr als für erneuerbare. Das verlangt reibungsarme internationale, ja globale Zusammenarbeit zwischen ebenbürtigen Partnern, die einander gegenseitig respektieren. Dank der Bestrebungen internationaler, nach privatwirtschaftlichen Prinzipien geführter Unternehmen hat das bisher meist gut funktioniert und uns Energie verlässlich und zu relativ niedrigen Preisen beschert.

Beispiel Nord Stream 2:Energie als politische Waffe

Es hat aber auch zu bedenklichen Abhängigkeiten geführt. So bezieht die EU aus der vormaligen UdSSR derzeit 53 Prozent ihres Erdgases (allein 44 aus Russland) und 38 Prozent ihres Erdöls (25 Prozent aus Russland). Das erlaubt energiereichen Staaten, Energie als Waffe benutzen, etwa in Form einer Verweigerung von Energieimporten (US-Sanktionen gegen den Iran) oder -exporten, wie das Russland jetzt in Europa demonstriert.

Die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 für Erdgas von Russland in die EU nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Seit mehr als 15 Jahren bemüht sich Präsident Wladimir Putin mit großem strategischen Geschick, den Einfluss Russlands im Territorium der vormaligen UdSSR und ihrer Satelliten wiederherzustellen. Politiker und Wirtschaftsführer haben Nord Stream 2 fälschlich als rein wirtschaftliche Angelegenheit bezeichnet. Der dominierende und weisungsgebende Eigentümer, der hier federführenden russischen Gazprom ist aber der russische Staat. Und für Russland war Nord Stream 2 nie eine rein wirtschaftliche Angelegenheit, sondern in erster Linie ein gegen die Ukraine und die EU gerichtetes geopolitisches Instrument.

Die Pipeline macht die seit September 1968 ununterbrochen in Betrieb stehende und bewährte Verbindung, die gewaltige Gasmengen von Russland über die Ukraine und die Slowakei nach Baumgarten in Niederösterreich bringt, überflüssig. Das wird die Bevölkerung in der Ukraine hart treffen und deren Wirtschaftsgefüge untergraben. Nord Stream 2 ist jetzt, nach langen Bauverzögerungen, fertig und mit Erdgas gefüllt. Sie ist aber noch nicht voll genehmigt, weil Gazprom sich weigert, allen zutreffenden Gesetzen, Verordnungen und Gasdirektiven der EU zu folgen.

Geopolitische Konsequenzen der Energiewende

Jetzt präsentiert Putin der EU die Rechnung: Die autoritär geführte Atommacht Russland vermindert ihre Gaslieferungen zu Speichern in der EU und treibt die Energiepreise in Rekordhöhe. Russische Truppen marschieren in Massen an der Grenze zur Ukraine und auf der Krim auf; russische Agitateure stehen, wenn man Medienberichten glauben darf, bereit, das Pulverfass in der Ukraine anzuzünden. Flankierend dazu stellen Putin und sein Außenminister Forderungen, die die territoriale Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht friedlicher und freiheitsliebender Staaten (Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, um nur einige zu nennen) amputieren würden. Nebenbei dringt Putin auch auf die sofortige Genehmigung der für seine Pläne so wichtigen Pipeline (was kümmern ihn EU-Gasdirektiven?). Es ist bemerkenswert, dass die OMV als Befürworter und vollzahlender Partner in Nord Stream 2 eingestiegen ist und damit zum Geldgeber und Handlanger für Putins geopolitische Ambitionen wurde.

In den nächsten Tagen und Wochen werden die Ereignisse um die Ukraine einiges über die Energiewende und deren geopolitische Konsequenzen offenbaren. In der Antike herrschte während der Olympischen Spiele Waffenstillstand. 2.500 Jahre später ist Russland während Olympia 2008 in Peking über Georgien hergefallen (ohne allerdings die wichtige Ölfernleitung von Baku in Aserbaidschan nach Ceyhan in der Türkei zu unterbrechen). Während Olympia 2022 in Peking ist es gerade der Staatschef der autoritär geführten Atommacht China, Xi Jinping, der die Entschärfung von Konflikten herbeiführen könnte, hat er doch in einer virtuellen Sitzung des Davos World Economic Forum am 17. Jänner in einer weitsichtigen Rede von Peking aus gesagt: "Die Geschichte hat bewiesen, dass Konfrontationen keine Probleme lösen."

Er hat aber in derselben Ansprache auch angedeutet, wie besorgt er um Chinas Wirtschaft ist, die jetzt durch steigende Energie- und Rohstoffkosten und die durch Corona und andere Ereignisse bedingten Störungen in den globalen Versorgungsketten kurzfristig schwer angeschlagen ist. Will er jetzt, gerade in dem Jahr, in dem seine Bestellung zum langzeitlichen Führer ansteht, auch noch die Bescherung eines Einmarsches von Putins Truppen in der Ukraine und dessen wirtschaftlichen Folgen? Was auch immer sich in den nächsten Monaten geopolitisch im Osten Europas abspielen wird, weiß niemand.

Fossile Energieträger bleiben noch länger dominierend

Die Weichen für eine globale Energiewende scheinen gestellt: Schon in diesem Jahrzehnt wird sich der Anteil der erneuerbaren Energieträger im Spektrum der Primärenergien stark vergrößern; fossile werden aber für mindestens zwei Jahrzehnte dominierend bleiben und auch lange danach benötigt werden. Besonders die innerhalb der Grenzen vieler Länder reichlich vorhandene Kohle könnte unter gewissen geopolitischen Gegebenheiten die Energiewende zurückhalten.

Die EU-Staaten halten gemeinsame, in historischer Wechselbeziehung gewachsene Werte hoch in Ehren, die viel tiefer gehen als die Schlagworte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Wohlstand und Frieden. Es liegt jetzt an uns, ob diese attraktiven Werte während der Energiewende und zeitgleicher geopolitischer Krisen auf dem Misthaufen der Geschichte verrotten oder weiterhin die Grundlagen einer guten Zukunft bilden werden. Es zeugt von der Stärke der EU, dass sie Konfliktlösungen durch Verhandlungen und Ausgleich, militärischen Aktionen vorzieht. Getragen von gemeinsamen Werten werden die EU-Staaten eine wohlgeplante, zeitgerechte Wende hin zu erneuerbaren Energieformen auch als geopolitischen Befreiungsschlag schaffen. Dank ihrer spontanen Kreativität, enormen Wirtschaftskraft und Freude am Schönen wird es den EU-Bürgern gelingen, eine Zukunft in Freiheit, Frieden und Wohlstand in einer lebenswerten Umwelt zu bauen.