Wahlkämpfer machen wenige Tage vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum noch einmal mobil.
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Edinburgh. Vor der National Gallery in Edinburgh gibt ein kleiner Männerchor gälische Lieder zum Besten. Die Sänger haben kleine blau-weiße schottische Fahnen an ihre Hüte gesteckt und tragen T-Shirts, auf denen steht: "We are too sexy for Westminster". Neben ihnen stimmt ein Streicherensemble seine Instrumente und bereitet sich auf seinen Auftritt vor. "Yes Scotland" steht auf ihren Leiberln, die selbstverständlich ebenfalls in Blau-Weiß "gehalten sind.
"Yes to Scotland", soll heißen: Ja zur Unabhängigkeit. Es sind nur noch wenige Tage bis zum großen Tag, bis zum 18. September, wenn die Schotten zu den Urnen schreiten und darüber abstimmen, ob sie Teil des Vereinigten Königreichs bleiben oder sich abspalten wollen.
So wie die Musikanten vor der National Gallery sind zahllose Gruppen unterwegs, die noch einmal versuchen, auf der Straße Unentschiedene für eine Ja-Stimme zu gewinnen. Die Princes Street, Edinburghs größte Einkaufsstraße, ist gesäumt von Ständen der Unabhängigkeits-Befürworter.
An Laternenmasten wehen blau-weiße Flaggen und selbst gemalte Banner; aus Lautsprechern schallt laute Musik. Aktivisten verteilen Broschüren und Anstecker: Studenten in T-Shirts der Grünen Partei Schottlands oder der Sozialisten; eine junge Frau mit Baby, dessen Tragetasche mit "Yes Scotland"-Buttons vollgesteckt ist; ein älterer Herr mit Seitenscheitel und Bundfaltenhose, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "Keep calm and vote yes" über seinem Hemd trägt.
Knappe Mehrheit für Yes
"Wir sind ein Volk, eine Nation! Wir müssen über uns selbst bestimmten! Wir müssen unser Gesundheitssystem schützen!", ruft er eifrig gestikulierend den Passanten zu. "Gehen Sie wählen!"
Durch die letzten Umfragen hat die Yes-Kampagne noch einmal an Fahrt gewonnen: Hatte die No-Fraktion in den letzten Monaten immer ein paar Prozentpunkte Vorsprung, so zeigten letzte Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Lagern oder sogar einen leichten Vorsprung für die Unabhängigkeits-Befürworter. "Es ist so eine wundervolle Stimmung", schwärmt eine ältere Dame im eleganten Kostüm mit Yes-Anstecker am Revers, die auf der Princes Street Broschüren mit der Aufschrift "Radical Independence" verteilt. "Es ist eine großartige Zeit, in Schottland zu sein."
Doch auch die No-Fraktion wurde durch besagte Umfragen aufgerüttelt. Mitte der Woche reiste sogar kurzerhand die britische Regierungsspitze aus London an, um noch einmal für einen Verbleib Schottlands beim Vereinigten Königreich Stimmung zu machen. Dennoch bleiben die Yes-Aktivisten in Edinburgh präsenter als die Unabhängigkeits-Gegner. SNP-Chef Alex Salmond reist von einer Wahlkampf-Veranstaltung zur nächsten und posiert auf Edinburghs Straßen bereitwillig für Selfies.
Yes: "Ein faires Land errichten"
Auch Mathematik-Student Fraser hat in dieser letzten Wahlkampf-Phase viel zu tun. Jeden Tag baut er seinen Stand für die Yes-Kampagne am Campus der University of Edinburgh auf, verteilt blau-weiße Anstecker, Plakate, Broschüren und verstrickt die vorbeikommenden Studenten in Diskussionen. "Es geht nicht um Nationalismus, um Engländer gegen Schotten, sondern darum ein faireres und freieres Land zu errichten!", redet er energisch auf eine Studentin mit No-Anstecker ein.
Abends zieht er dann mit Kollegen von Tür zu Tür und versucht Unentschiedene daheim für eine Yes-Stimme zu überzeugen oder organisiert Vorträge und Diskussionsrunden an der Uni. Fraser ist dabei ein Mann der ersten Stunde: Schon vor zwei Jahren - kurz, nachdem Premierminister David Cameron einem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit zugestimmt hat - hat er sich der Scottish National Party angeschlossen und für die Kampagne zu arbeiten begonnen. "Aber damals noch nicht jeden Tag,", lacht er.
No: autonom ohne Abspaltung
Über den Ausgang des Referendums ist er optimistisch. "Es haben sich noch nie so viele Menschen hier an einer Grassroots-Kampagne beteiligt und mit Politik beschäftigt", erzählt er begeistert. Aber dann muss er auch schon wieder weiter. Ein Passant will mehrere große Yes-Plakate mitnehmen. "Nimm Dir ruhig alles mit, was Du willst. Wir haben hier alle Infos!"
Ruhiger geht es an den Ständen der No-Kampagne, die von den Studenten-Gruppen der Labour Party, der Liberal Democrats und den Conservative Students organisiert werden, zu. "In einer Woche ist das nutzlos." Student William von den LibDems deutet resigniert auf ein "No Thanks"- Schild. Er und sein Studienkollege Jonathan sind erst seit einigen Monaten bei der No-Kampagne aktiv - in den letzten Wochen aber so wie Fraser jeden Tag.
Auch darüber, dass das schottische Parlament aufgewertet werden und die schottische Regierung Steuern einheben oder über das schottische Gesundheits- und Bildungsbudget entscheiden dürfen soll, sind sie sich mit Fraser einig. "Home Rule" würde er unterstützen, sagt William, aber Unabhängigkeit, "das geht zu weit". Denn eine Währungsunion könne nie ohne eine politische Union funktionieren.
Es sei außerdem patriotischer, für Nein zu stimmen, fügt Jonathan hinzu. "Es ist patriotisch, für die Leute zu stimmen, die hier tatsächlich leben und arbeiten, nicht für irgendeine Vision von Schottland in der Zukunft oder einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Es gibt ja auch viele Schotten, die richtig stolz darauf sind, zum Vereinigten Königreich zu gehören."
Das sei auch nicht der Punkt, entgegnet Fraser. Schottische Unabhängigkeit sei keine Frage der Identität. "Viele glauben, das sei so eine nationalistische Braveheart-Sache. Aber wer sich damit beschäftigt, sieht schnell, dass es nicht um Nationalismus und Identität geht." Es gehe vielmehr darum, den freien Uni-Zugang, das Gesundheitssystem und die Pensionen vor der konservativen Tory-Regierung in London zu schützen.
Das Referendum sei aber auf jeden Fall gut für Schottland, sagt Fraser. "Ich hoffe dieses hohe Level an politischem Engagement bleibt uns erhalten, egal wie es nächste Woche ausgeht."