In Norwegen ist Enteignung von Grundeigentümern aufgrund öffentlichen Interesses ein Druckmittel und nicht Prozessnorm.
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Oslo. Seitdem sich Christoph Chorherr von den Grünen zur Leerstand-Problematik in Wien äußerte, hängt das Wort "Enteignung" in der Luft. Wie bei vielen Themen in Österreich ist eine skandinavische Lösung auch hier Vorbild in der Debatte. Hilfe suchend wird in Sachen Grundbesitz wieder einmal gen Norden geschaut. Christoph Chorherr erklärte in seiner Aussage, dass das norwegische Gesetz unter besonderen Umständen Enteignung zum Wohl der Allgemeinheit vorsieht. Auch er könne sich das in Wien vorstellen. Wie das Gesetz in Norwegen gehandhabt wird, hat sich nun die "Wiener Zeitung" angesehen.
Håvard Steinsholt ist Professor an der Universität für Umwelt und Biowissenschaft nahe der Hauptstadt Oslo. In seiner Forschung zum Thema Enteignung ist er zu dem Schluss gekommen, dass das Recht auf Enteignung im Sinne des öffentlichen Interesses sehr wohl bekannt ist und unter Umständen zum Tragen kommt. In der Regel geht es dabei um den Kauf von Land für den Bau von öffentlichen Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser oder darum Infrastrukturprojekte zu realisieren. Bis 1959 konnten Grundbesitzer sogar enteignet werden, wenn sich ein Skiklub mit den nötigen Mitteln eine neue Sprungschanze wünschte. Unter diesem Vorzeichen entstand beispielsweise der Urbergsbakken in Etnedal.
In der heutigen Praxis kommt es nur noch selten so weit, dass ein Richter über die Verteilung der Güter entscheidet. So werden 95 Prozent der Verhandlungen mit der norwegischen Verkehrsbehörde einvernehmlich gelöst.
Der Umfang von enteignetem Besitz ist vor allem in den vergangenen 20 Jahren außerdem stark zurückgegangen. Während der norwegische Staat im Rekordjahr 1994 Eigentum in 350 Fällen gezwungenermaßen veräußern ließ, stritten Behörden und private Eigentümer 2002 "nur" noch um 150 Grundstücke. Die Tendenz geht bis heute in diese Richtung.
88-Jährige kämpft um 25 Quadratmeter
Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Gesetz die Verhandlungen oft indirekt beeinflusst und ein Grundeigentümer die Einigung unter der – selten ausgesprochenen, doch stets präsenten – Androhung einer Enteignung unterzeichnet.
Aktuell wird in norwegischen Lokalmedien der Enteignungsfall um die 88-jährige Åse Marie Brekkan diskutiert. 25 Quadratmeter will die Gemeinde Bodø ihr abkaufen, "um die Verkehrssicherheit im Gebiet zu erhöhen", wie Ole Hjartøy, Bürgermeister der Gemeinde mit knapp 50.000 Einwohnern, erklärt. Nachdem sich die Dame auf keine Form der Entschädigung einlässt, wird der Fall höchst wahrscheinlich in naher Zukunft vom Gericht entschieden.
Im Grunde ist man immer nach einer alternativen Lösung bemüht, und Enteignung ist immer die letzte Instanz. Politiker streben eine Lösung an, mit der beide Parteien leben können, weil sie einerseits dem Grundbesitzer das Recht zugestehen, über seinen Grund zu verfügen und der Prozess andererseits immer mit hohen Kosten verbunden ist. In Brekkans Fall geht man von umgerechnet 6000 bis 12.000 Euro Verwaltungskosten aus.
Enteignung seit 1814 in Verfassung
Steinsholt hat beobachtet, dass einige Politiker sogar eher das Projekt stoppen als die Enteignung forcieren würden. Diese Einstellung haben diverse Parteien in ihr lokales Programm aufgenommen. Sogar die Liberalen sind der Meinung, dass die Enteignung verhindert werden soll.
Das norwegische Gesetz zur Enteignung ist weder neu noch eine Ausnahmeerscheinung: Es geht auf die Verfassung von 1814 zurück, die im vergangenen Mai ihr 200. Jubiläum feierte. Eine vergleichbare Regulierung kennt auch der Nachbarstaat Schweden. Dort tauchen die meisten Konflikte auf, wenn die Verkehrsbehörde ein bestimmtes Gebiet für ein Straßenbauprojekt benötigt.