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Von drei vermissten Israelis gibt es weiterhin keine Spur - Israel beschuldigt die Hamas und macht Abbas verantwortlich.
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Jerusalem. Die Nachricht vom Verschwinden zweier 16-jähriger und eines 19-jährigen Israeli im Westjordanland brodelte Ende vergangener Woche zeitgleich mit dem brutalen Vormarsch der islamistischen Isis im Irak an die Oberfläche. In einem Brief erklärte sich die Isis sogar für die Entführung verantwortlich. Israel beschuldigt hingegen die Hamas und macht die Palästinensische Autonomiebehörde unter deren Präsident Mahmud Abbas für das Schicksal der Verschwundenen verantwortlich.
Dabei haben palästinensische Sicherheitskräfte im Großteil des besetzten Westjordanlandes keine Präsenz, weil dieses Gebiet unter israelischer Souveränität steht. Knotenpunkte, an denen israelische Siedler autostoppen, werden dort oft von Soldaten bewacht. Dass die beiden Jugendlichen und ihr 19-jähriger Freund überhaupt auf besetztem Palästinensergebiet autostoppen, wirft ein Licht auf die weitverbreitete Illusion von Normalität und Sicherheit unter Israelis im Westjordanland. Jüdische Siedlungen im Palästinensergebiet sind nicht Tel Aviv, auch wenn es die Befürworter der Siedlerbewegung gerne so vermarkten. Somit wurde auch die Illusion totaler Kontrolle den drei Entführten zum Verhängnis und könnte sie das Leben kosten, welche palästinensische Gruppierung auch immer dahintersteckt.
Erst vor zwei Wochen hatten die palästinensischen Rivalen ihren Willen zur Versöhnung mit einer Übergangsregierung der nationalen Einheit verfestigt. Die EU erklärte Kooperationsbereitschaft, die USA waren gut gestimmt und trotz Israels lautstarker Skepsis waren auch hier keine großen Gegenmaßnahmen zu erwarten. Mit der Entführung bricht das Kartenhaus nun abermals zusammen.
Mehr als 100 Palästinenser wurden in den vergangenen Tagen verhaftet, die meisten davon Mitglieder und hochrangige Funktionäre der Hamas sowie Mitglieder des "Islamischen Jihad". Weitere Gegenmaßnahmen werden von der israelischen Regierung derzeit diskutiert, darunter auch die Verbannung von Hamas-Politikern vom Westjordanland in den Gazastreifen.
Das Geiseldrama passiert zu einer Zeit, in der die Karten im Nahen Osten wieder einmal neu gemischt werden: Während der Irak und Syrien auseinanderfallen, erfinden Isis und Al-Kaida jene Landesgrenzen neu, durch die Großbritannien und Frankreich 1916 den Nahen Osten unter sich aufgeteilt haben.
Faktor Zeit gegen Moderate
Der Status quo in Israel-Palästina wird nicht isoliert von den Umwälzungen im nahöstlichen Umfeld fortbestehen können, was die mögliche Verbindung der Entführung zu Isis deutlich macht. In heutigen Nahen Osten spielt der Faktor Zeit gegen die Interessen der moderaten Mehrheit auf beiden Seiten.
Die Entführung jugendlicher Staatsbürger ist der Alptraum eines jeden Ministerpräsidenten. Und dennoch spielt sie in die Hände Benjamin Netanyahus: Die Hamas soll weiterhin international als Terrororganisation isoliert werden, Präsident Mahmud Abbas muss zwischen Israel und der Hamas wählen, der palästinensische Versöhnungsprozess wird wieder auf Eis gelegt. Unterdessen hat Abbas beide Seiten aufgerufen, jegliche Gewalt zu unterbinden. Er will verhindern, dass "Fraktionen Vorteil aus der Unordnung ziehen, um nicht-nationale Ziele zu verfolgen".
Indem es die mühsam aufgebauten Erfolge der Aussöhnung zerstört, wirft das Entführungsdrama die palästinensische Nationalbewegung wieder einmal zurück zum Anfang. Gleichzeitig unterstreicht es die große Kluft zwischen dem, was die Spitzenpolitiker der beiden Fraktionen ausgehandelt haben, und den Ansichten des militanten Hamas-Flügels. Die Hamas könnte mit israelischen Geiseln die Freilassung palästinensischer Gefangener erpressen wollen, wie das bereits im Austausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit passiert war. Aber wurde die Geiselnahme von oben bestellt? In jedem Fall schießt sich die isolierte Bewegung damit selbst ins Bein.
Den Sicherheitsapparat der Autonomiebehörde bringt das Drama in ein neues Dilemma: die palästinensischen "Brüder" für den Widerstand gegen die israelische Besatzung zur Rechenschaft zu ziehen. "Die Autonomiebehörde soll uns Palästinenser vor Israel beschützen und nicht Israel vor Palästinensern", sagte der Vater eines 29-jährigen Hamas-Aktivisten, der wegen bewaffneten Widerstands in einem palästinensischen Gefängnis sitzt, vier Tage vor der Entführung. Dann zitierte der 50-Jährige ein altes Sprichwort: "Ich gegen meinen Bruder, meine Brüder und ich gegen meine Cousins, meine Cousins und ich gegen den Feind." Nur Abbas habe das falsch verstanden, meinte das Hamas-Mitglied: "Abbas kämpft gemeinsam mit dem Feind gegen seine Brüder."