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Entrüstung über russische Gewalt in Tschetschenien

Von Nick Allen

Politik

Moskau - Das äußerst brutale Vorgehen russischer Einheiten in der abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien hat diesmal selbst auf russischer Seite große Empörung ausgelöst. Plünderungen, Misshandlungen und systematische Zerstörungen - diese Vorwürfe erhob der von Moskau eingesetzte Verwalter Achmad Kadyrow, nachdem eine Durchsuchung von Dörfern durch russische Soldaten in reine Willkür ausgeartet war.


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"Friedliche Zivilisten wurden misshandelt, erniedrigt und ausgeraubt", sagte er zu den "Säuberungen" in den Ortschaften Assinowskaja und Sernowodsk, 30 Kilometer westlich der Hauptstadt Grosny. Statt versteckte Rebellen zu fangen, "bedienten" sich russische Soldaten in Schulen und Krankenhäusern, beschrieb Kadyrow die Aktion. "Dabei wurde nicht ein Rebell festgehalten, wurden nicht eine Waffe beschlagnahmt und nicht eine Bombe gefunden."

Die Bürgermeister der beiden Ortschaften legten aus Protest gegen die Vorkommnisse ihre Ämter nieder. Sie warfen der russischen Seite vor, dass sie mit ihrem brutalen Vorgehen wieder Tausende von Menschen in die Flüchtlingslager in der Nachbarrepublik Inguschetien zurückgetrieben habe, aus denen sie erst zurückgekommen waren.

Russische und internationale Menschenrechtsgruppen nahmen die Ankündigung von Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow, Sonderermittler in die Region zu schicken, mit Skepsis auf. In Moskau erklärte Diederik Lohmann von "Human Richts Watch", dass dies "lediglich ein Ausweichmanöver zur Beruhigung der eigenen und internationalen Öffentlichkeit" sei. Noch kritischer äußerte sich Oleg Orlow von der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial", der der Untersuchung "den üblichen Verlauf" voraussagte. "Zuerst werden Strafverfahren eingeleitet, dann werden diese eingestellt." Von bisher 302 Strafverfahren gegen russische Soldaten in Tschetschenien seien 212 wegen Beweismangels eingestellt worden, hob Orlow mit Blick auf eine Statistik hervor. Doch die Zahl der Straftaten russischer Einheiten gehe nicht zurück, und vielfach seien Zeugen aus Angst vor Vergeltung nicht zur Aussage bereit. "Memorial" hat allein im Mai dieses Jahres den Tod von 60 Zivilisten und im Juni den Tod von 53 Zivilisten durch die Hand russischer Soldaten dokumentiert. Viele der Menschen seien bei Kampfhandlungen getötet worden, doch eine große Zahl sei bei Hausdurchsuchungen "kaltblütig ermordet" worden.

Unterstützung erhielten Kadyrow und die Menschenrechtler erstmals von den russischen Behörden, genauer vom Kaukasus-Sonderbeauftragten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Viktor Kasanzew. Dieser sagte zu, die Ermittlungen persönlich zu überwachen. "Die Aufständischen und die (russischen) Behörden sind gleichermaßen schuld an der instabilen Lage in Tschetschenien", sagte er. "Aber der Einsatz eines dummen (russischen) Kommandanten bringt die russische Regierung um die ganzen Früchte ihrer Arbeit."

Tatsächlich waren bei den Durchsuchungen in Assinowskaja und Sernowodsk in der Vorwoche Hunderte von Männern und Jungen zusammengetrieben worden. Während der anschließenden Verhöre seien sie mit Elektroschocks gefoltert oder von den Wachhunden der Soldaten gebissen worden, berichteten sie "Memorial" später. Nach einer weiteren Aktion in der Stadt Kurtschaloj, südlich von Grosny, landeten elf Zivilisten nach schweren Verhandlungen bei Verhören im Krankenhaus, berichtete Kadyrow, acht weitere Männer galten seitdem als vermisst.

Derartige Vorwürfe scheinen zumindest den russischen Innenminister Boris Gryslow nicht zu beunruhigen. Schließlich seien die Einsätze gegen die Rebellen "hart, aber notwendig" gewesen, sowie im "vollen Einklang mit dem Gesetz".