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Einblicke in Sammlungen frühmittelalterlicher Volksrechte.
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Wer glaubt, dass das durch die "Affäre Brüderle" wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückte Thema der sexuellen Belästigung neu ist, irrt; nur haben sich die Maßstäbe seit der ersten Verrechtlichung vor rund 1000 Jahren maßgeblich geändert. Die Elle ist deutlich feiner geworden, heute geht es um die Pönalisierung von Verhaltensweisen, die etwa der literarische Humorist und Homme à femmes Roda Roda noch um 1910 als "jenes Maß an Belästigung, auf welches eine junge Frau eben Anspruch hat" umschrieb.
Vom selben Autor mit dem bürgerlichen Namen Sandor Friedrich Rosenfeld und der charakteristischen "roten Weste", der in die USA emigrierte und dort einsam verstarb, stammt übrigens auch der Terminus der "standrechtlichen Trauung", der aussagekräftig und möglicherweise selbst für "politisch" sensible Leserinnen und Leser nicht unwitzig ist. Obwohl politisch unkorrekt, muss aber für Rosenfeld alias Roda Roda insofern eine Lanze gebrochen werden, als er gemessen an heutigen "Herrenwitzen" einen viel feinsinnigeren Humor hatte, und gemessen an den Zeitstandards damals sicherlich nicht zu weit in seinen Publikationen ging, wie etwa der Erzählungsband "Ritt auf dem Doppeladler" zeigt.
"Lex Baiuvariorum"
Denn die rechtlichen und ethischen Standards des Zusammenlebens von Mann und Frau sowie von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Kultur und sexueller Ausrichtung haben sich maßgeblich geändert, wie ein rechtshistorischer Rückblick zeigen kann. Aufmerksamen Studierenden entging in der Vorlesung über deutsche Rechtsgeschichte beim legendären Vortragenden und emeritierten Ordinarius für ebendieses Fach, DDr. Rudolf Hoke (von mir im Jahr 1982 im Auditorium Maximum der Universität Wien besucht) nicht, dass etwa die bayerische Kompilation des damaligen, regionalen "Volksrechts" (= Lex Baiuvariorum), als Strafgesetz des frühmittelalterlichen Rechts, bereits eine Entschädigungsleistung für einen unerwünschten sexuellen Übergriff in der Währung der "Solidi" vorsah, von denen ein gewisser Betrag fällig wurde, wenn das passierte, "quod Baiuvarii Horcrift vocant".
Mit dieser abwertend klingenden Bezeichnung des Horcrift ("Hurengriff") sollte nicht etwa das Opfer zur Dirne gestempelt, sondern deutlich gemacht werden, dass es sich um eine intime Berührung einer Frau durch einen (aufdringlichen, dreisten) Mann handelte, die etwa unvermittelt als Überraschungsangriff auf die weibliche Integrität an einem engen Brückenübergang geschehen konnte. Jedenfalls bleibt genau dieses lokale Beispiel des Brückenzugangs in Erinnerung, das die Kommentatoren der Lex B. in genau diesem Kontext nannten. Andere Volksrechte wie etwa das der Langobarden oder der Franken kannten vergleichbare Delikte.
Anders als die späteren "peinlichen" Gerichtsordnungen (etwa die Constitutio Criminalis Carolina des Kaisers Karl V.), sahen die mittelalterlichen Volksrechte für die meisten Delikte keine "spiegelnden Strafen" (wie etwa das Handabhacken für Diebe wie in der Scharia), Ehr- oder Haftstrafen oder dergleichen vor, sondern es wurden Entschädigungsleistungen mit fixen Tarifen festgesetzt, die sogar für Körperverletzungs- und Tötungsdelikte Geltung hatten. Daher war es systemkonform, dass ein Rechtsbrecher, der erwiesenermaßen eine Frau sexuell belästigt hatte, mit einer Geldentschädigung davonkam.
Allein die Tatsache, dass die "Lex Baiuvariorum" ein derartiges Delikt kannte, muss indessen als "modernes Rechtsverständnis" eingestuft werden; der "Horcrift" dürfte aber eher mit sexuellen Übergriffen, wie sie im StGB enthalten sind, korrelieren als mit den heute diskutierten verbalen oder manuellen Übergriffen, die sich nicht auf Geschlechtsorgane beziehen (so etwa das inkriminierte und umstrittene "Po-Grapschen", das nach österreichischer Spruchpraxis nicht gerichtlich strafbar sein dürfte), sodass es sich im bayerischen Volksrecht um die Strafe für "echte" Übergriffe, nicht für Belästigungen handelte; aber immerhin . . .
Britische Skurrilität
Die Unsicherheit im Umgang miteinander und mit dem heiklen Thema reflektiert auch eine andere, nur an der Oberfläche humoristisch gemeinte Darstellung. In den 1960er Jahren publizierte der britische Autor W. Herbert eine Sammlung von "66 Misleading Cases". In der Einleitung erwähnte er solche, die von anderen Medien (etwa in den USA, Frankreich und Italien) für bare Münze genommen wurden; darunter einen Fall, in dem sein "Held" und fiktiver Kläger A. Haddock mit einer Bestrafung wegen sexueller Belästigung konfrontiert wurde.
In der U-Bahn hatten sich drei junge Frauen, die ultrakurze Miniröcke trugen, ausgerechnet auf den drei Sitzplätzen im Abteil rund um ihn platziert, und Haddock wurde nach einer Anzeige vom Strafgericht (bei uns wäre es eine Verwaltungsübertretung) wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt, weil er seine Blicke nicht gezügelt hatte. Grobes Unrecht, wie das zuständige britische Gericht (fiktiv) befand, das die Schuld auf die Damen schob und ihnen fürderhin sogar untersagte, mit Miniröcken dieser Art in einer U-Bahn Platz zu nehmen; vielmehr hätten sie die Fahrt diesfalls stehend zu absolvieren, um keine inadäquaten Einblicke zu bieten.
Das Skurrile an diesem Fall war weniger die typisch "britische" Umkehr der Schuldfrage (bzw. das Mutieren Haddocks vom Täter zum Opfer und vice versa die Metamorphose der drei Mädchen zu "Täterinnen"), sondern die Tatsache, dass ihn ausländische Medien unkommentiert nachdruckten. Da der rechtskundige Autor Herbert den Fall juristisch-technisch korrekt formuliert hatte, nahmen italienische und französische Blätter diesen für bare Münze und zitierten die auch in romanischen Landen als damals neuartiges Minirock-Pro-blem diskutierte Entscheidung als "britische Spruchpraxis".
Da der Autor dem Fall den Anschein des Realen gegeben hatte und zudem im "Evening Standard" die sonst übliche Überschrift fehlte, dass es sich um einen "Misleading case" handelte, ist den Journalisten außerhalb des Vereinigten Königreichs auch kein Verstoß gegen Recherchepflichten anzulasten. So schnell kann sich eine "leitende Entscheidung" bilden und grenzüberschreitend fortpflanzen!
So ähnlich geschah es ja letztlich auch mit der aktuellen Debatte, deren Auslöser durchaus zweifelhaft ist. Es gab nicht wenige Frauen, die für den leicht angetrunkenen FDP-Politiker Partei ergriffen, weil sich ja letztlich die von ihm "belästigte" Journalistin zwecks Informationsbeschaffung an ihn "herangepirscht" hatte. Gleichwohl gibt es hier natürlich Grenzen des Zulässigen und vor allem die stets zu beachtende, wenn auch nicht stets juristisch relevante goldene Benimmregel gegenüber Personen des anderen Geschlechts oder korrelierender sexueller Neigung.
"Po- und Steißfragen"
Demnach sind natürlich auch Belästigungen zwischen homo- oder transsexuellen Menschen denkbar und ebenso zu verurteilen, wie der häufigere Fall, in welchem ein Mann eine Frau durch inadäquates Annäherungsverhalten belästigt. Zweifellos gibt es aber auch den umgekehrten Fall, in dem Männer "unsittlich" berührt oder zu einer sexuellen Handlung aufgefordert werden. Hingegen scheint das Vorzeigen pornografischer Darstellungen oder der klassische "Herrenwitz" tatsächlich eine maskuline Spezialität zu sein.
Um all dem abzuhelfen oder doch zumindest eine abschreckende Sanktion zu gewährleisten, wurde vorgeschlagen, ein neues Verwaltungsstrafdelikt nach Muster der Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe, Herkunft etc. zu schaffen, womit auch Fälle jenseits des Justizstrafrechts pönalisierbar würden. An sich ist das keine abwegige Idee, die als eine von mehreren Varianten nun in einer Kommission diskutiert werden soll, die manche Gegner eines Regulativs nach Muster der einstigen Paritätischen Kommission (für Lohn und Preisfragen) nunmehr despektierlich "Kommission für "Po- und Steißfragen" nennt.
Angesichts der dramatisch hohen Zahl an betroffenen Frauen, die in letzter Zeit von einschlägigen Erlebnissen berichteten, in denen eindeutig das Maß des Erträglichen überschritten wurde (unerwünschte Berührungen; ordinäre sexistische Witze, Versenden oder Herzeigen von pornografischen Bildern . . ), scheint es durchaus einen massiven Leidensdruck zu geben, der durch eine Strafdrohung (im Verwaltungsstrafrecht) vielleicht reduziert werden könnte, wenn es auch illusorisch erscheint, dass rechtliche Maßnahmen gesellschaftliches Fehlverhalten tatsächlich markant reduzieren könnten.
Aber wenn dann künftig sich ein Kavalier der ewiggestrigen Schule in der U-Bahn ohne Not wie ein Hauskater an eine Unbekannte anschmiegt, könnte ein derartiger Übergriff auch durch Zeugen verhältnismäßig einfach objektiviert werden. Hingegen wird es rein faktisch-empirisch nicht leicht sein, sexuell motivierte Angriffe auf das Gesäß eines Menschen zu entlarven und von flüchtigen Berührungen, wie sie im Alltag vorkommen können, zu unterscheiden.
Steinzeit-Instinkte?
Dass aber eine Debatte über diese Verhaltensweisen nunmehr in Gang gekommen ist, mag schon allein ein Umdenken und eine Verbesserung des Verständnisses wecken. Daher sei auch angeregt, gewisse Grundbegriffe des wechselseitigen Umgangs von jungen Frauen und Männern bereits in der Schule, etwa im Biologie- oder Sexualkundeunterricht anzusprechen. Verhaltensweisen, wie sie etwa in der sehenswerten "Saturday Night Fever"-Dokumentation des Senders ATV authentisch gezeigt werden. In den Episoden, welche das Freizeitverhalten von Jugendlichen der sozialen Unterschicht filmen, werden permanent und mit einer kaum zu unterbietenden Niveaulosigkeit Angehörige des jeweils anderen Geschlechts diskriminiert, beleidigt und verächtlich gemacht.
Es ist ein anschauliches Panoptikum, wohin eine neue Phase der Sprach-Inkompetenz, der Reduk-tion auf nonverbale Kommunikation und auf ein steinzeitähnliches Instinktverhalten uns zurückgeführt haben: nämlich weit rückwärts der Standards, welche bereits die "Lex Baiuvariorum" in einer Zeit vorsah, in der noch nicht einmal die Babenberger im heutigen Österreich herrschten.
Aber womöglich scheitern auch aktuelle Versuche, das Zusammenleben zwischen Frauen und Männern zeitgemäß zu regulieren daran, dass wir, wie es ein Psychiater kürzlich ausdrückte, mit "steinzeitlichen Instinkten ausgestattet sind", also mit einem denkbar ungeeigneten Werkzeug die hypersexualisierte Welt von heute bewältigen müssen.
Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.