Die Mehrheit der griechischen Wähler wird sich erst ganz zum Schluss entscheiden, meint der Politologe Marantzidis.
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"Wiener Zeitung": Herr Marantzidis, in Griechenland werden nach der nun endgültig gescheiterten Präsidentenkür am 25. Jänner vorgezogene Parlamentsneuwahlen abgehalten. Wie sehen die Griechen das?Nikos Marantzidis: Ich glaube, diese Entwicklung hat bei den Griechen vor allem Besorgnis und Unsicherheit hervorgerufen. Das hat gute Gründe: Derzeit liegen die Verhandlungen zwischen Athen und der Gläubiger-Troika (aus EU, EZB und IWF, Anm.) und über die Notwendigkeit und den Umfang eines neues Sparpakets auf Eis, bereitstehende Kredittranchen der Troika können daher nicht abgerufen werden, der Ausstieg aus dem laufenden Hilfsprogramm ist nicht geregelt, genauso wie die Details über den "Tag danach" in der Causa Hellas nicht vereinbart worden sind. Die Parlamentsneuwahlen verstärken dieses Klima und schaffen neue Unwägbarkeiten.
Was unterscheidet diesen Urnengang von den Doppelwahlen im Frühjahr 2012? Welche Gemeinsamkeiten gibt es?
Es gibt drei Gemeinsamkeiten: Erstens beherrscht hierzulande wieder die Frage eines möglichen Grexits, eines Ausstiegs Griechenlands aus der Eurozone die öffentliche Diskussion, falls eine Regierung Syriza ihr Programm umsetzen sollte. Zweitens herrscht eine starke Polarisierung zwischen den beiden größten Parteien, der konservativen Nea Dimokratia und Syriza. Drittens steht ein überaus harter Wahlkampf an. Der Unterschied zu den letzten Wahlen ist, dass Syriza noch Anfang 2012 eine kleine Partei war. Im Mai schaffte sie zwar überraschend den Sprung auf 17 Prozent und im Juni 2012 gar auf 27 Prozent der Stimmen. Dennoch war sie in den Augen der Griechen keine Partei, die wirklich eine Regierungsverantwortung übernehmen konnte. Das ist heute ganz anders. Sie hat in den zweieinhalb Jahren seit dem letzten Urnengang ihr Profil als eine potenzielle Regierungspartei deutlich geschärft. Was heute im Gegensatz zu 2012 existiert, ist die Dynamik von Syriza. Syriza hat jetzt die reelle Perspektive, an die Macht zu kommen und den Machtwechsel herbeizuführen.
Syriza hat die jüngsten Europawahlen mit vier Prozentpunkten Vorsprung auf die Nea Dimokratia gewonnen. In den seither mehr als sechzig Umfragen hat Syriza ausnahmslos die Nase vorn, allerdings hat sich der Vorsprung von zuvor vier bis elf Prozentpunkten in etwa halbiert. Weshalb?
Diese Tendenz ist tatsächlich festzustellen. Denn vor allem Wähler aus dem Mitte-Rechts-Spektrum kehren zur Nea Dimokratia zurück. Sie spüren eine verstärkte Unsicherheit, die die bisher dominante Unzufriedenheit, Wut oder gar Empörung über die Regierung Samaras und die von ihr betriebene Sparpolitik nun zu überdecken beginnt. Diese Wähler haben Angst vor einem Grexit. So eine Entwicklung würde in ihren Augen alles in Griechenland noch verschlimmern. Sie fürchten: Der Lebensstandard könnte noch weiter sinken, müsste eine mögliche Syriza-Regierung sich dem Druck der Gläubiger-Troika letztlich beugen, falls neue Kreditverträge mit noch härteren Auflagen abgeschlossen werden müssen. Ihre Devise lautet: "Achtung, es kann alles noch schlimmer kommen!" Das sind die Pessimisten. Auf der anderen Seite können wir feststellen, dass auch Syriza zulegt, wenn auch nicht so stark. Diese neuen Syriza-Wähler wollen unbedingt einen Kurswechsel in Griechenland. Sie sehen den wirtschaftlichen Niedergang bis hin zu der humanitären Krise im Lande, die das Krisenmanagement in Griechenland hervorgerufen hat. Für sie verkörpert Syriza die Hoffnung, die Zuversicht mit Blick auf die Zukunft. Sie glauben fest daran, dass mit Syriza die Dinge besser werden. Deren Devise lautet: "Schimmer geht’s nimmer!" Das sind die Optimisten. Die Frage lautet: Wer behält die Oberhand? Die Pessimisten oder die Optimisten? Dies ist die neue Bipolarität in Griechenland. Und dies bedeutet ferner, dass wir wieder eine Etablierung des Zweiparteiensystems in Griechenland erleben, nun aber mit Syriza als neuen Akteur.
Es wird diesmal ein Express-Wahlkampf sein. Begünstigt das den bisherigen Regierungschef Samaras? Oder ist ein Syriza-Sieg unumkehrbar?
Statistisch ist es für Regierungsparteien in Griechenland sehr schwierig, die Wahlen zu gewinnen, wenn sie bei Beginn des Wahlkampfs hinterherhinken. Das ist seit dem Ende der Obristendiktatur 1974 in Griechenland nur ein einziges Mal passiert. Im Jahr 2000 haben die Pasok-Sozialisten unter dem damaligen Premierminister Kostas Simitis noch die Nea Dimokratia im Endspurt überholt. Die Regel lautet also: Das ist schon schwierig genug. Ist der Wahlkampf kurz, wird es noch schwieriger, das Blatt noch umzukehren. Aber: Wir leben in Griechenland nicht in normalen Zeiten. Falls beispielsweise die Athener Aktienbörse kurz vor den Wahlen abstürzt oder eine massive Kapitalflucht einsetzt, dann ist das kein Normalzustand. Und dies könnte den Wahlausgang entscheidend beeinflussen. Ohnehin beobachten wir in Griechenland, dass sich eine kritische Masse von Wählern erst in der letzten Woche, buchstäblich in letzter Minute, vor den Wahlen entscheidet und so den Wahlsieger bestimmt.
Schafft eine Partei diesmal die absolute Mehrheit der Mandate?
Das halte ich nach dem augenblicklichen Stand der Dinge für eher unwahrscheinlich. Dem Vernehmen nach hat Samaras den frühestmöglichen Wahltermin gewählt, um seinem Koalitionspartner, den Pasok-Sozialisten unter Evangelos Venizelos, die bei den Europawahlen nur noch acht Prozent der Stimmen erhalten haben, einen Vorteil zu verschaffen, sollte Ex-Premier Georgios Papandreou, so wie kolportiert wird, in diesen Tagen eine neue Partei gründen und damit die Pasok spalten.
Zu Beginn der Griechenland-Krise gingen die sogenannten Wutbürger auf die Straße. Wie ist die Gemütslage der Griechen heute? Welche Gefühle herrschen derzeit vor?
Die Griechen haben Angst, andere sind optimistisch. Die Angst, aber auch die Wut, ist der Erschöpfung gewichen. Viele Griechen sind nach so vielen Sparpaketen einfach müde.
Zur Person
Nikos
Marantzidis,
48, Professor der Politikwissenschaften an der Universität Makedonien in Thessaloniki, ist einer der renommiertesten Wahl- und Meinungsforscher in Griechenland. Unter seiner Leitung führt die Universität Makedonien regelmäßig
repräsentative Umfragen durch. Sie werden in der angesehenen
griechischen Tageszeitung "Kathimerini" und dem privaten Fernsehsender Skai TV veröffentlicht.