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"Entschlossen, ruhig, nervenstark - und wütend auf den Westen"

Von Alexander Dworzak

Politik

Die sozialdemokratische Ikone Willy Brandt war bei Mauerbau Berliner Bürgermeister. Sein Sohn, Historiker Peter Brandt, über die damaligen | Ereignisse, die Ostpolitik Brandts und den Mauerfall.


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"Wiener Zeitung": Deutschland feiert den 25. Jahrestag des Mauerfalls vom 9. November 1989. Echte Freude oder ritualisiertes Event?Peter Brandt: Von beidem etwas. Natürlich kommt kein Medium ohne ausführliche Erlebnisberichte aus. Aber in beiden Teilen der Stadt ist die Erinnerung an den Mauerfall sehr lebendig, da ist nichts gekünstelt.

Sie leben in Berlin. Merken Sie Unterschiede bei der Feierlaune zwischen Ost- und Westberlinern?

Nein, und das trotz weiterhin unterschiedlicher Mentalitäten in Ost und West. Diese sind bei Unter-35-Jährigen, insbesondere gut gebildeten, kaum mehr wahrnehmbar, stärker jedoch bei Älteren. Dazu kommt, dass es neben den beiden Teilen der Stadt eine immer größer werdende Innenstadt gibt. Hier siedelten sich in den vergangenen Jahren "die Bonner" an, also Beamte aus den Ministerien und deren Familien, aber auch Ausländer und Binneneinwanderer. Sie sorgten für eine völlig neue Durchmischung.

Im Sommer 1961, als die Mauer gebaut wurde, waren Sie erst knapp 13 Jahre alt. Wie haben Sie den Mauerbau damals wahrgenommen?

Ich war Gymnasiast und mit einer Jugendgruppe in Kärnten in den Bergen. Dort gab es weder TV noch Radio, ich erfuhr erst Tage später von dem Ereignis. Wir Berliner lebten seit 1958 im Krisenmodus. Damals forderte die UdSSR, eine "freie, entmilitarisierte Stadt Westberlin" zu schaffen, andernfalls würde sie einen separaten Friedensvertrag mit der DDR schließen. Der Mauerbau kam nicht aus heiterem Himmel, aber natürlich waren die Bürger entsetzt, als er Realität wurde. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es wirklich zur Teilung kommt, hatten Verwandte dies- und jenseits der Mauer.

Ihr Vater war von 1957 bis 1966 Berlins Bürgermeister. Wie haben Sie Willy Brandt zur Zeit des Mauerbaus erlebt?

Egon Bahr, der engste politische Vertraute meines Vaters, sagte einmal: "Brandt war am stärksten, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand." Er war entschlossen, nervenstark, ruhig - und wütend über die Reaktion des Westens. Denn die Alliierten, Großbritannien, Frankreich und die USA, haben den Mauerbau mit demonstrativer Gelassenheit zur Kenntnis genommen und die Sowjets gewähren lassen, solange es in deren Zone ist. Niemand wird für uns eintreten, wenn wir unsere Anliegen nicht selbst vertreten und praktisch befördern, schlussfolgerte Brandt. Genau diese Erkenntnis war Ansatzpunkt seiner Ostpolitik; mit kleinen Schritten die Lage für die Menschen erträglicher zu machen.

Wie beurteilt der Historiker Peter Brandt den Politiker Willy Brandt?

Hervorstechend ist dieser neue Ansatz im Umgang mit dem Ost-West-Konflikt. Brandt und Bahr erkannten, dass man Konflikte auch aus der Perspektive des Gegners sehen muss, auch wenn man diese nicht teilt. Die beiden Supermächte hatten entschieden, höchstens Stellvertreterkriege zu führen. Die BRD war herausgefordert, wie sie unter dem Dach dieses Arrangements ihre eigenen Interessen vertritt. Brandts und Bahrs Herangehensweise an den Ost-West-Konflikt war eine Voraussetzung für die politische Wende 1989.

Waren Sie beim Mauerfall in Berlin?

Ja, ironischerweise musste ich jedoch ausgerechnet in diesen Tagen einen Vortrag für die Erlangung einer Professur vorbereiten. Ich bin also nur zwischendurch zu den Schauplätzen gegangen, war somit äußerlich wesentlich weniger beteiligt als innerlich. Denn bereits in den frühen 1980er Jahren hielt ich Kontakt zu Personen aller politischer Ausrichtungen in der DDR. Willy Brandt kam am Tag nach dem Mauerfall nach Berlin und sagte dann den berühmten Satz: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."

Sie kritisieren, der damalige BRD-Kanzler Helmut Kohl sah die Wiedervereinigung nicht als gemeinsames Projekt. Wie hätte diese ablaufen sollen?

Meine Kritik bezog sich nicht nur auf Kohl, sondern auf die Mehrheit der westdeutschen politischen Führungsschicht. Die Einigung wurde - auch verfassungsrechtlich - so betrachtet, als ob ein kleiner Teil angegliedert wird, wie die Hereinnahme des Saarlandes 1957 im größeren Maßstab. Es ging nicht um ein gemeinsames Projekt, eine gemeinsame Gestaltung dessen. Wobei ich zugestehe, dass die Asymmetrie vorgegeben war, schließlich war die DDR rasch im Begriff, sich aufzulösen.

Willy Brandts Popularität ist auch heute, 22 Jahre nach seinem Tod, ungebrochen. Egon Bahr sagte, Brandts Ruhm ruhe auf drei Pfeilern: dass er seine persönlichen Schwächen nicht verborgen hat, in Ost und West als integer angesehen wurde und den Deutschen mit seinem Friedensnobelpreis 1971 Stolz auf die Politik zurückgegeben hat. Sehen Sie das auch so?

Ich kann das vollinhaltlich unterschreiben und ergänze noch einen Faktor: Brandt gab anderen Menschen das Gefühl, sie zu verstehen und ihre Anliegen ernst zu nehmen - ohne sich selbst dabei zu verbiegen. Ob in einer Versammlung mit Gewerkschaftern, bei einem Treffen mit hochkarätigen Wissenschaftern oder jugendlichen Besuchern des Evangelischen Kirchentags: Brandt erreichte die Menschen.

Über das "nicht ganz einfache Verhältnis" zwischen Willy und Peter Brandt und die Probleme der SPD lesen Sie auf wienerzeitung.at

Zur Person

Peter Brandt (Jahrgang 1948), ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen. 2013 erschien sein Buch "Mit anderen Augen: Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt". Peter Brandt weilte auf Einladung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog in Wien.