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Entzauberte Wunderarznei

Von Edwin Baumgartner

Wissen
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Ein Medikament auf der Basis von Dimethylfumarat stellt einen neuen Ansatz bei der medikamentösen Behandlung von Multipler Sklerose dar. Heilung bewirkt es indessen keine.
© Corbis

Dimethylfumarat schützt die Nerven, ohne das Immunsystem zu dämpfen.


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Wien. Ein Wundermittel soll es sein. Endlich ein wirksames Medikament gegen die nervenschädigende Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose (MS). Manche Betroffene meinen gar, der Wirkstoff Fumarsäure in Form von Dimethylfumarat würde Rollator und Rollstuhl in die Rumpelkammer verbannen. Noch in diesem Jahr soll das Medikament zumindest in Deutschland auf den Markt kommen, die Zulassung ist bereits erteilt.

Wobei das Medikament nicht neu ist: Entwickelt wurde es zur Behandlung der Schuppenflechte. Die ist, wie MS, eine Autoimmunerkrankung. Als man entdeckte, dass Dimethylfumarat denn auch tatsächlich bei MS wirkt, zog der Hersteller Biogen Idec das Schuppenflechte-Medikament zurück, um die Zulassung als - wesentlich teureres - Medikament gegen MS zu beantragen.

Der Unmut in den Medien über die knallharte Geschäftemacherei mit einer Krankheit war groß, legte sich aber angesichts der Vorzüge des Präparats. Die freilich wurden in maßloser Übertreibung zum Selbstläufer in Betroffenenkreisen. Biogen Idec unternahm nichts, um die Hoffnungen auf die Realität herunterzutakten.

Allerdings ist der richtige Behandlungsansatz bei MS erstmals auch seitens der Pharmaindustrie erkannt worden, meint selbst der Querdenker der MS-Behandlung, Olaf Hebener, Leiter des MS-Therapiezentrum Hohen-Sülzen.

Bei MS greift, vereinfacht gesagt, ein aus unbekannten Gründen fehlgesteuertes Immunsystem die Nerven an. Die Erkrankung kann sowohl schubförmig als auch langsam fortschreitend verlaufen. Der bisherige Ansatz war die Dämpfung des Immunsystems - mit unerfreulichen Konsequenzen, etwa einer Erhöhung des Krebsrisikos.

Hebener hingegen steht gängigen Therapien skeptisch gegenüber, sofern sie ausschließlich auf Produkten der Pharmaindustrie beruhen. Der deutsche Arzt vertritt die Ansicht, man dürfe nicht das Immunsystem schwächen, sondern müsse die Nerven schützen. Seit geraumer Zeit verabreicht er eine linolsäurereduzierte Diät in Verbindung mit Nahrungsergänzungen wie Omega-3-Fettsäuren, Vitamin E, Selen und Grünlippmuschelextrakt. Der MS-Betroffene verzichtet also auf die meisten Fette wie Margarine, Schmalz und Öl ebenso wie auf Vollkornprodukte. Der Verlust an kulinarischer Finesse bewirkt einen Gewinn an Lebensqualität. Vor allem bekommt Hebener in nahezu allen Fällen das gefürchtete Fatigue-Syndrom, eine bei MS sehr häufig auftretende bleierne Müdigkeit, in den Griff.

Nutzen für sechs Betroffene

Da auch das neue Medikament beim Schutz der Nerven ansetzt, spricht Hebener von "einem klugen Behandlungsprinzip mit überschaubaren Risiken". Gegenüber der "Wiener Zeitung" widerspricht er auch der Ansicht, das Medikament würde nur bei schubförmiger MS wirken: "Der mit dem Wirkmechanismus verknüpfte Gewebsschutz ist bei allen Verlaufsformen zu erwarten, wobei der schubförmige und der sekundär chronische Verlauf mit überlagernden Schüben durch die höhere Entzündungsaktivität relativ am stärksten profitieren müssten."

Doch Hebener artikuliert auch Bedenken: "Die Zulassungsstudien für Dimethylfumarat weisen Ergebnisse aus, die mit bisherig zugelassenen Medikamenten vergleichbar sind", sagt er und bezieht sich auf die "Confirm"-Studie. Konkret: Im Schnitt erleiden innerhalb zweier Jahre 15 von 100 MS-Betroffene einen Schub. Nach Einnahme von Dimethylfumarat sind es 9. Das bedeutet einen Nutzen für lediglich 6 von 100 Betroffenen.

Christoph Heesen, Leiter der Multiple-Sklerose-Ambulanz an der Universitätsklinik Hamburg, sagt im deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" denn auch: "Einen Durchbruch bei der Behandlung von MS stellt es (das Medikament auf Dimethylfumarat-Basis, Anm.) sicher nicht dar."

Damit widersprechen Hebener und Heesen dem Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft-Bundesverbands, Ralf Gold, der "mit einem Durchbruch in der Therapie" rechnet und "eine ganz neue Perspektive in der Behandlung von Autoimmunerkrankungen" erwartet.

Heilung nicht in Sicht

Hebener dämpft hingegen die Erwartungen an Dimethylfumarat in einem weiteren Punkt: Das Medikament "hat keine regenerative Wirkung und deshalb keine gewebsbezogene Auswirkung auf die neurodegenerativen Veränderungen", sagt er zur "Wiener Zeitung", obwohl es "bei einer Minderzahl von Anwendern eine funktionelle Besserung geben kann". Denn nicht nur der MS-bedingte Myelinverlust kann die Leitfähigkeit der Nervenfasern beeinträchtigen, auch das freie Radikal Stickstoffmonoxid kann dabei eine Rolle spielen. Da Dimethylfumarat die zerstörende Wirkung der freien Radikale vermindert, ist laut Hebener eine Verbesserung in jenen Fällen möglich, in denen die Leitfähigkeit der Nerven durch Stickstoffmonoxid verringert wird.

Somit ist Dimethylfumarat ein richtiger Behandlungsansatz und laut Hebener "als bedarfsgerechte Ergänzung der Therapiestrategie in Betracht zu ziehen". Von einem Wundermittel oder gar der Heilung von MS ist man allerdings immer noch weit entfernt.