Wichtiger Text in EU-Schicksalsstunde. | Autor sieht große Idee oft veruntreut.
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Die Zukunft der Europäichen Union ist in diesem Sommer 2011 ungewiss wie kaum jemals zuvor. Dass die EU an der hochbrausenden Finanzkrise letztlich zerbricht, ist nicht mehr undenkbar; genauso gut ist freilich auch möglich, dass so etwas wie die "Vereinigten Staaten von Europa" am Ende dieser Turbulenzen steht, eher ungeplant erzwungen von der normativen Kraft des Faktischen.
Der deutsche Großfeuilletonist Hans Magnus Enzensberger legt in dieser europäischen Schicksalsstunde einen bemerkenswerten Text vor: "Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas". Im angenehm schlanken Essay-Format inspiziert er den Zustand Europas und seiner Institutionen. Er beantwortet dabei ein paar einfache, aber zentrale Fragen: Was bringt uns die EU, und welchen Preis müssen wir dafür entrichten, ökonomisch, politisch und auch in unserem Alltag?
Wer sich angesichts des Titels eine hitzige Streitschrift gegen "die in Brüssel" erwartet, wird enttäuscht werden. Enzensberger nähert sich seinem Gegenstand mit wohl tuender Ausgewogenheit, Redlichkeit und Nüchternheit, trotzdem ist der Text äußerst witzig geschrieben. Enzensberger konzediert der EU viele günstige Auswirkungen auf unser Leben. "Der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert", stellt er richtigerweise gleich am Anfang fest. "Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, dass bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlass bitten. Ferner muss man es unseren Brüsseler Beschützern danken, dass sie nicht selten wacker vorgegangen sind gegen Kartelle, Oligopole, protektionistische Tricksereien und unerlaubte Subventionen."
EU-Vorschriften schwer wie ein junges Nashorn
Doch Enzensberger geht mit der Union auch hart ins Gericht. Das demokratische Defizit der EU nennt er kein letztlich reparables Ärgernis, sondern "eine durchaus beabsichtigte Grundsatzentscheidung. Als hätte es die Verfassungskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts nie gegeben, einigten sich Ministerrat und Kommission (...) darauf, dass die Bevölkerung bei ihren Beschlüssen nichts mitzureden hat. Jenes Defizit ist also nichts weiter als vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger."
Die natürlich nur zu seinem vermeintlichen Besten notwendig ist. Die EU "gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, dass wir selber wissen, was gut für uns ist. Dazu sind wir in ihren Augen viel zu hilflos und unselbständig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden."
Ein kleines, aber besonders feines Kapitel widmet Enzensberger unter dem Titel "Esprit de corps" der Kaste der Brüsseler Hochbürokratie. In dem für seinen Text charakteristischen Cocktail von Anerkennung und Abneigung zeichnet er ein geradezu hyperrealistisches Bild dieser Klasse.
So kompakt Enzensbergers Text geraten ist, so dicht ist er mit höchst informativen Häppchen angereichert, die das Lesevergnügen erheblich steigern. Da erfährt der Leser etwa, dass die gesamten Rechtsvorschriften der EU auf Papier ausgedruckt so viel wiegen wie ein junges Nashorn; dass der Begriff "Rettungsschirm" in diesem Zusammenhang vermutlich erstmals 1922 angesichts der drohenden Staatspleite Österreichs üblich wurde, geprägt von Jean Monnet als "Regenschirm für Österreich". Auch dass die EU-Agentur für Gesundheit am Arbeitsplatz 64 Mitarbeiter beschäftigt, aber dabei von 84 Verwaltungsräten beaufsichtigt wird, dürfte nicht jedem Leser geläufig gewesen sein.
Enzensberger ist ganz offenkundig kein dumpfer EU-Gegner, sondern eher ein enttäuschter Liebhaber einer großen Idee, die von der real existierenden Union nur allzu oft veruntreut wird. Er dürfte damit nicht ganz allein sein.
Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Suhrkamp, 73 Seiten, 7,20 Euro