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"Er will seinen Vater rächen"

Von WZ-Korrespondentin Simone Schlindwein

Politik

Christliche Milizen machen weiter Jagd auf Muslime - und bekämpfen einander.


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Bangui. Der Nullpunkt liegt im Zentrum von Zentralafrikas Hauptstadt Bangui, inmitten eines Kreisverkehrs vor dem Präsidentenpalast nahe des südlichen Grenz-Flusses Ubangui. Von hier aus führt eine Straße nach Norden - quer durch die Zentralafrikanische Republik, in den Tschad und weiter nach Libyen bis zum Mittelmeer. Darüber wurden seit Jahrhunderten Waren in den Kontinent hinein und Rohstoffe aus dem Herzen Afrikas hinaus transportiert. Die Straße ist eine der Lebensadern der Zentralafrikanischen Republik.

Doch über diese Straße kommen auch seit Jahrzehnten Rebellen aus dem Norden in die Hauptstadt marschiert. Zuletzt war es im März 2013 so weit: Damals stürmten die Rebellen der Seleka (Allianz) aus dem Norden kommend, mit Hilfe aus dem Tschad, über diesen Weg die Stadt Bangui. Neun Monate hielten die moslemischen Seleka unter ihrem selbsternannten Präsidenten Michel Djotodia die Macht in Bangui. Dann lehnten sich die Milizen der christlichen Anti-Balaka im Dezember auf. Djotodia musste abdanken.

Über diese Straße zogen sich die Seleka im Dezember wieder gen Norden zurück. Französische und afrikanische Friedenstruppen hatten die Straße im Jänner bis hin zum Kilometer 180, der Kleinstadt Sibut, geräumt und die noch verbliebenen Seleka aus den Dörfern verjagt. 300 Soldaten der Afrikanischen Union (Misca) wurden in Sibut stationiert, als Puffer gegen die Seleka, die jetzt 30 Kilometer weiter im Gebüsch lauern. Doch seitdem hat kaum ein Lastwagen oder Auto diese Straße passiert. Sie gilt als unsicher. Es gibt keine Militärpatrouillen, keinen Verkehr. Wer hier eine Panne hat, ist verloren.

Bereits zwölf Kilometer vom Nullpunkt entfernt, am Stadtrand von Bangui, beginnt die heiße Zone. Täglich wird hier geschossen und gemordet. Täglich sammelt das Rote Kreuz hier Leichen auf. Misca-Soldaten und französische Panzerwagen sind stationiert, Stacheldraht sichert die Fahrbahn vor den Menschen, die am Wegrand herumlungern: Frauen verkaufen Obst und Gemüse, Männer trinken Bier, Jugendliche der Anti-Balaka-Milizen (frei übersetzt: "Gegen das Schwert") patrouillieren - mit Macheten und Messern bewaffnet. Von einem Podest aus verhökern sie gestohlene Waren: T-Shirts, Taschenlampen, Zigaretten, die sie aus den Läden der geflüchteten moslemischen Händler gestohlen haben.

Bei Kilometer 13 beginnt das Elend. Ein paar tausend Moslems hausen hier unter freiem Himmel, in selbstgebauten Wellblechhütten, in der Moschee - nur einen Steinwurf von den Anti-Balaka entfernt, die in den vergangenen Monaten Jagd auf Moslems machten, sie gar in Stücke hackten oder bei lebendigem Leib verbrannten. Noch immer begehen sie täglich Übergriffe, töten täglich Moslems.

Kinder mit Macheten

Schwerbewaffnete französische Soldaten kontrollieren zwischen Kilometer 12 und 13 jeden, der hier durch will, nach Waffen. Journalisten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen erklären sie, dass sie jenseits dieses Nadelöhrs keine Sicherheit garantieren. Hinter Kilometer 13 beginnt das Niemandsland. Nun wagte sich zum ersten Mal ein Konvoi verschiedener Hilfsorganisationen durch den Checkpoint. In jedem Auto ein Sicherheitsmann, rekrutiert aus der französischen Fremdenlegion. Bisher lieferten UN-Hilfsorganisationen nur mit Flugzeugen Güter in die Kleinstädte im Norden und Osten des Landes. Jetzt wollen sie prüfen, ob man nicht zumindest bis Sibut den Landweg nutzen kann. Eine heikle Mission.

Schon bei Kilometer 15 lauern dutzende bewaffnete Anti-Balaka. Sie wedeln mit Macheten, umzingeln die Fahrzeuge, verlangen Wegzoll, Zigaretten, Kleingeld. Bei Kilometer 55, 65 und 120 dieselbe Situation. Es sind junge Männer, manche davon Kinder. Sie sind nervös und aggressiv.

Die Dörfer am Rand der gut asphaltierten Straße wirken verwaist. Ab und zu sieht man frisch abgebrannte Häuser und Geschäfte, Überreste zerstörter Moscheen. Hier haben die Anti-Balaka gewütet und die Moslems vertrieben. Doch auch ältere Ruinen sind zu sehen, bereits mit Gras überwachsen. Auch die Seleka zerstörten hier Häuser, töteten Menschen.

In Sibut, bei Kilometer 180, herrscht eine unheimliche Stimmung. Die Seleka sollen nur 30 Kilometer nördlich im Gebüsch lauern, angeblich reorganisieren sie sich dort. Keiner weiß das so genau. Aber die Angst geht um.

Nördlich von Sibut leben mehrheitlich Moslems, die Stämme südlich sind mehrheitlich christlich. In Sibut manifestierte sich auch eine religiös-kulturelle Grenze - zumindest bis Ende Jänner die Anti-Balaka Sibut angriffen. Mehr als 200 Menschen wurden damals getötet. Mitte Februar stoppten französische Truppen die Gefechte und vertrieben die Seleka. Seitdem ist Sibut fest im Griff der Anti-Balaka.

Von den muslimischen Einflüssen in der 24.000 Einwohner-Stadt Sibut sind jetzt nur noch Ruinen übrig. Die Moschee liegt in Trümmern, die moslemischen Läden sind abgebrannt, die Häuser zerstört. Von den knapp tausend Moslems, die hier bisher Waren aus dem Norden umschlugen, ist kein einziger mehr übrig. Sie sind alle geflohen.

Auf der geschäftigen Hauptstraße wimmelt es von jungen Männern, bewaffnet mit Kalaschnikows, Messern, Macheten oder Speeren. Ein kleiner Bub trägt Pfeil und Bogen über der Schulter, hat eine Zigarette im Mundwinkel. Sein Blick ist kalt und erstarrt. "Er ist gerade einmal sieben Jahre alt", berichtet Etienne vom Kinderhilfswerk Save the Children. Der alte Mann will aus Sicherheitsgründen seinen Nachnamen nicht nennen. Im Auftrag seiner Organisation will er die Jugendlichen dazu bewegen, die Waffen abzugeben. Doch das ist schwer: "Dieser Bursche hat gesehen, wie sein Vater von Seleka ermordet wurde, und will ihn rächen. Es ist ein Kreislauf der Gewalt, sie wissen nicht wohin mit ihrem Hass und ihrer Wut."

Während der Mann erklärt, kommen die Anti-Balaka immer näher. Sie wollen wissen, was er über sie erzählt. Einer der älteren Milizionäre mit Kalaschnikow baut sich vor ihm auf und zischt etwas in der lokalen Sprache Sangho. Etienne seufzt und biegt in eine Seitengasse ab. "Sie haben keinen Respekt", flüstert er.

Drei Viertel der Bevölkerung Sibuts sind jünger als 18 Jahre. Mehr als 80 Prozent der Jungen hätten sich der Anti-Balaka angeschlossen, schätzt Etienne. "Sie haben alle nichts zu tun, die Schulen sind geschlossen und geplündert - dort gibt es weder Tische noch Bänke", sagt er. Etienne grüßt einen älteren Mann im Trainingsanzug. Es ist der Polizeikommissar der Stadt. Er will aus Angst seinen Namen nicht nennen. "Die Bevölkerung wurde von diesen Banden als Geisel genommen", sagt er. Seine Polizisten seien von den Seleka entwaffnet worden und hätten keine Mittel, die Staatsgewalt durchzusetzen. "Jetzt rauben und vergewaltigen die Jugendlichen hier, drohen mit Macheten."

Frustrierende Mission

Mehrfach habe er dies den Misca-Truppen gemeldet, die am Stadteingang stationiert sind. Vergeblich. Auch ihnen sind die Hände gebunden. Wenn sie die Anti-Balaka entwaffneten, würden die Seleka wieder angreifen, so die Erklärung. "Jetzt bedrohen sie mich", sagt der Kommissar. In diesem Moment kommen die Jugendlichen mit ihren Macheten wieder näher. Er geht davon.

In den Kasernen, in denen einst die Armee hauste, sind nun Soldaten aus Gabun im Auftrag der Misca stationiert. Oberst Marcel Tsoumou sitzt auf einem Plastikstuhl im Innenhof. Hinter ihm hacken Soldaten Feuerholz. Es gibt keinen Strom in Sibut, Lebensmittelrationen kommen auch nur selten, für seine 300 Soldaten gibt es nicht genug Feldbetten. Der Oberst wirkt, als wäre er auf einer einsamen Insel gestrandet.

Zu Beginn seiner Mission vor drei Wochen habe er noch Engagement gezeigt, sagt Tsoumou. Seine Soldaten hätten die Straßen patrouilliert, den Anti-Balaka ein Dutzend Feuer-Waffen abgenommen und sich auch die Klagen des Polizeikommissars angehört. Und jetzt? "Es ist verzwickt. Wenn wir die eine Gruppe entwaffnen, dann kommen ihre Gegner und töten sie", erklärt er und deutet auf ein paar Männer jenseits des Stacheldrahtzauns der Kaserne.

Es sind drei Anti-Balaka-Milizionäre. Sie haben Pflaster und Verbände über tiefen Schnittwunden an Armen und am Kopf. "Die Milizen aus dem Nachbardorf haben uns angegriffen", berichten sie. Sie seien zu den Misca-Truppen gekommen, um sich dort verarzten zu lassen. Das Machtvakuum in Sibut führt jetzt dazu, dass sich die Milizen untereinander um die Herrschaft im Land streiten. Jetzt, da sie ihre Feinde vertrieben haben.