Cohn-Bendit sieht "Lust ohne Grenzen" als Lebensmotiv des französischen Präsidenten. | Paris. (ap) Mit all seiner Leidenschaft drosch Nicolas Sarkozy im Wahlkampf auf die 68er-Bewegung ein. Ihr Erbe müsse "ein für alle Male liquidiert werden", rief er am Vorabend der Stichwahl 20.000 Anhängern in Paris zu. Im Mai 68 und seiner hedonistischen Kultur lägen die Gründe für eine tiefe moralische Krise des Landes, das Scheitern der Schulen, das Einheitsdenken.
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Die Wahl machte Sarkozy auch zu einem Votum für oder gegen die Bewegung. Dem Relativismus der Linken, die nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden könne, setzte er eine geistig-moralische Wende entgegen, die Rückkehr von Autorität und Verantwortung. "Ich verspreche, eine Nation wiederaufzubauen, die wieder stolz auf sich selbst sein kann", rief er. Schweiß tropfte ihm vom Kinn.
Inzwischen ist knapp ein Jahr vergangen. Und als leuchtendes Vorbild für traditionelle Tugenden wie Bescheidenheit und Respekt ist der Staatschef nicht gerade in Erscheinung getreten. "Hau ab, armer Depp", raunte er kürzlich einem Messebesucher entgegen, der ihm nicht die Hand schütteln wollte. Im Privatjet eines befreundeten Industriellen rauschte er zu Liebesurlauben mit der Sängerin Carla Bruni. Er habe etwas zwischen den Beinen und wisse davon Gebrauch zu machen, mokierte er sich über Kritiker.
Profiteur der Revolte
"Sarkozy selbst ist doch ein verhinderter 68er", sagt Daniel Cohn-Bendit im AP-Gespräch. "In Frankreich gab es damals den Slogan jouir sans entrave, der Lust ohne Grenzen nachzugehen. Das ist ja praktisch sein Lebensmotiv."
Tatsächlich hat Sarkozy, der seinerzeit gegen die Studenten und streikenden Arbeiter auf die Straße ging, von der Lockerung der Sitten profitiert. Zweimal geschieden, zum dritten Mal verheiratet, mit einer Patchwork-Familie. "Vor 1968 wäre seine Kandidatur, zumal mit seinen ausländischen Wurzeln, wesentlich schwieriger gewesen", resümiert der Soziologe Jean-Pierre Le Goff, Autor des Buches "Mai 68 - Das unmögliche Erbe".
Dessen ungeachtet hat Sarkozy begonnen, in der Erziehungspolitik das Rad zurückzudrehen. Ein Revival erleben zum neuen Schuljahr Gedichte und Kopfrechnen. Zum Ende der zweiten Klasse müssen die Kinder künftig die Symbole der Republik kennen, sich beim Klang der Nationalhymne erheben und ihre Lehrer siezen. Und schon in den Vorschulen werden Moralkurse eingeführt.
Aus deutscher Perspektive kann das nur erstaunen. Denn einen tiefgreifenden pädagogischen Wandel wie in der Bundesrepublik lösten die 68er in Frankreich nicht aus. Der Unterricht ist nach wie vor sehr streng, das Bildungssystem lässt nur wenig Raum für persönliche Entfaltung.
Auch in den Familien geht es wesentlich strenger zu. Die "Fessée", wie das Hinternversohlen beim westlichen Nachbarn genannt wird, ist nie aus der Mode gekommen. In einer im Dezember von der Organisation Union des Familles en Europe (UFE) veröffentlichten Studie gaben 96 Prozent der befragten Kinder an, schon mindestens einmal derart gezüchtigt worden zu sein. Neun von zehn der Eltern räumten ein, eine Tracht Prügel auf den Allerwertesten gehöre zu ihren pädagogischen Praktiken.
Und das wird sich vorerst kaum ändern, denn antiautoritäre Ansätze sind in Frankreich verpönt wie nie. Serge Audier, Philosoph und Politologe an der Pariser Sorbonne, spricht von einem "Anti-68er-Fieber". Sarkozys Wahlkampf und Politik sei Ausdruck einer ideologischen Restauration, von der sein Land erfasst sei.