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Erbittertes Ringen um die Macht

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv
Ist das Erbe von Mustafa Kemal Atatürk in Gefahr? Für die Anhänger der Kemalisten (im Bild bei einer Demonstration in Istanbul) ist die Antwort klar: Die AKP rüttle an den Grundsätzen des Republikgründers. Foto: ap/Sezer

Warten auf Urteil des Verfassungs- gerichtshofes. | Neuwahlen scheinen immer wahrscheinlicher. | Ankara. Hasim Kilic will sich nicht drängen lassen. Doch es ist keine Behäbigkeit, die den Mann mit der gedrungenen Gestalt, dem breiten Gesicht und dem graumelierten Schnauzer, zögern lässt. Vielmehr weiß der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, dass die Entscheidung seiner Institution weitreichende Konsequenzen für das gesamte Land haben wird.


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Daher wollte Kilic Medienspekulationen über ein baldiges Urteil zum Parteiverbotsverfahren gegen die regierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) unterbinden. Ein genaues Datum für die Verkündung des Entscheids könne das Gericht nicht nennen, erklärte er.

Es wäre nichts Neues für die Türkei, wenn eine Partei verboten werden würde. Dutzende Gruppierungen mussten bereits offiziell ihre Tätigkeit aufgeben, weil ihnen islamistische oder kurdisch-separatistische Tendenzen vorgeworfen wurden. Doch das derzeit laufende Verfahren richtet sich gegen eine Regierungspartei, die fast jeder zweite Türke bei der Parlamentswahl im Vorjahr mit seiner Stimme bestätigt hat. Würde die kurdische DTP - deren Auflösung das Verfassungsgericht ebenfalls derzeit prüft - auch verboten, stünden etliche Gemeinden völlig ohne politische Repräsentanten da. Denn in vielen Regionen vor allem im Osten der Türkei sitzen nur AKP- und DTP-Mitglieder in den Vertretungen.

So ist das Verfahren denn auch in erster Linie ein Kampf um die Macht im Land. Zwar wirft die Generalstaatsanwaltschaft der islamisch geprägten AKP vor, "im Zentrum anti-säkularer Aktivitäten" zu stehen. Doch geht es nur vordergründig um Religion. Vielmehr will ein Großteil der kemalistischen Eliten, die sich als Hüter des Erbes von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk sehen, den Einfluss einer immer stärker werdenden Fraktion beschränken.

Was sie erschreckt, ist die "Sichtbarwerdung von konservativen Schichten, bedingt durch einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel", sagt Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik. Viele der AKP-Wähler und -Mitglieder seien Menschen mit traditionellem Background, die zu Geld gekommen sind und nun auch politische Mitsprache fordern. Doch auch ihre Wertvorstellungen ändern sich: So wollen die meisten von ihnen etwa ihre Töchter auf die Universität schicken.

Wer ist progressiv?

Dabei hätten sich die Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten vor allem in den letzten zwei Jahren verschärft. Bis 2005, 2006 hätte Premier Recep Tayyip Erdogan versucht, mit seiner Fraktion ins politische Zentrum zu gehen, erklärt Günay. Die AKP umwarb Unternehmer, und die gute wirtschaftliche Entwicklung der Türkei half ihr dabei. Eine Beruhigung für viele Liberale waren auch etliche Reformen im Zuge des Annäherungsprozesses an die Europäische Union sowie - bis zum Vorjahr - zum politischen Ausgleich ein Präsident, der dem kemalistischen Lager zuzuordnen war.

"Die breite Koalition zwischen Konservativen und Liberalen hat zum großen Wahlerfolg der AKP geführt", erläutert auch die Politologin Yesim Arat, die an der Istanbuler Bogazici Universität unterrichtet. Doch dieser Konsens habe mittlerweile sein Ende gefunden. Denn seit ihrer Wiederwahl habe die AKP den von der EU geforderten Reformprozess vernachlässigt, und religiöse Hardliner gewännen an Einfluss.

Hardliner finden sich aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums. So finde erstmals eine Debatte darüber statt, ob der Kemalismus tatsächlich die progressive Strömung in der Türkei sei, meint Aybars Görgülü von der türkischen Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien, Tesev. "Über den Kemalismus ist lange Zeit nicht gesprochen worden; er galt als Tabu." Kritik, dass das bloße Hüten der 80 Jahre alten Prinzipien von Atatürk zu einer Versteinerung geführt habe, sei nicht zulässig gewesen.

EU in der Zwickmühle

Dabei waren es nicht die Kemalisten, sondern Erdogan und seine Partei, die den Demokratisierungsprozess durch die EU-Annäherung unterstützt haben. Die EU steckt daher in einer Zwickmühle: Dem Parteiverbotsverfahren begegnet sie mit Skepsis, da "politische Fragen im Parlament und nicht im Gerichtssaal" zu diskutieren seien. Doch mit harscher Kritik hält sie sich zurück - um mögliche Nachfolgeregierungen nicht als Gesprächspartner zu verlieren.

So sehen sich viele türkische Liberale vor einem doppelten Paradoxon, wie es die Politologin Yesim Arat formuliert. "Einerseits ist es eine islamisch geprägte Partei, die den Reformprozess vorangetrieben hat. Auf der anderen Seite bekommt nun die EU, die Demokratisierung einfordert, Angst vor einer islamischen Türkei." Wenn die Union aber auf Distanz zur Türkei gehe, lasse sie die Menschen mit einer Regierung allein, die wiederum den Reformprozess vernachlässigt. Leidtragende werden etwa Frauen sein, die sich den Druck der EU für ihren Kampf für mehr Gleichberechtigung zunutze gemacht haben.

Wie sich die Türkei unter einer neuen Regierung entwickeln würde, ist aber ebenfalls völlig offen. Genauso ungewiss sind die Folgen eines AKP-Verbots. Die Partei könnte unter einem neuen Namen zu wohl unausweichlichen vorgezogenen Neuwahlen antreten. Erdogan selbst könnte unabhängiger Kandidat werden. Nur eines scheint fix: Ein baldiges Ende der gesellschaftlichen Polarisierung ist nicht in Sicht.