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Erdogan, der umstrittene und widersprüchliche Premier

Von Stefan Haderer

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Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter.

Wie lange noch wird dem türkischen Ministerpräsidenten der Spagat zwischen konservativ-nationalistischen und pro-westlichen Kräften gelingen?


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Es regt sich Unmut gegen den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan und schon spricht man vom "türkischen Frühling". Dass dem Ministerpräsidenten jedoch dasselbe Schicksal widerfährt wie so manchem arabischen Despoten - nämlich beim Westen in Ungnade zu fallen - ist sehr unwahrscheinlich. Es war zwar zu erwarten, dass liberal-oppositionelle Bevölkerungsschichten eines Tages gegen den konservativ-nationalistischen Machthaber aufbegehren würden; Erdogans Regierung hat sich außenpolitisch jedoch schon längst auf die Seite des Westens gestellt, insbesondere was das gemeinsame Vorgehen gegen Syriens Bashar al-Assad betrifft.

Während Erdogan selbst in der Türkei einen harten Kurs fährt und in Menschenrechtsfragen kaum Fortschritte im Land zu verzeichnen sind, ist die mehr als zehnjährige Amtsperiode des Ministerpräsidenten von Widersprüchen gekennzeichnet. Einerseits ist es die Rückbesinnung seiner Partei, der AKP, auf islamische Werte, die mit dem laizistischen Gesellschaftsideal Kemal Atatürks kaum noch vereinbar sind. Andererseits präsentiert Erdogan sein Land gerne weltoffen und modern - vor allem, wenn es um wichtige wirtschaftspolitische Interessen oder Gespräche über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geht. Seitdem diese allerdings nur schleppend vorangehen, will sich der Premier mehr den streng islamischen Golfstaaten zuwenden.

Findet die in Genf geplante Friedenskonferenz zur Lage in Syrien nun statt, wird die Vertretung der Türkei wohl neben den Repräsentanten Amerikas, Frankreichs und des Golfkooperationsrates Platz nehmen und die syrische Opposition - und somit auch islamistische Rebellengruppen - unterstützen. Die Verbesserung der türkisch-israelischen Beziehungen nach dem Schiffsunglück der Flotte Mavi Marmara 2010 hatte besonders für die USA höchste Priorität, da die Türkei in Nahostfragen doch von unschätzbarer militärstrategischer Bedeutung ist. Der EU-Beitritt der Türkei wird ebenso von der amerikanischen Regierung stark befürwortet, die getrost über Menschenrechtsdefizite und sozialpolitische Bedenken zahlreicher Mitgliedsstaaten hinwegsieht.

In der Frage, wie die Türkei nun denn zu Israel stehe, scheint Erdogan ein doppeltes Spiel zu spielen: Während er im Februar 2013 durch seine Aussage, der Zionismus sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" von Israel und dem Westen auf das Schärfste kritisiert wurde, relativierte er die israelischen Luftangriffe auf Syrien. Assad benutze diese als rhetorische Waffe, um von seinen Massakern abzulenken.

Wie lange noch wird dem umstrittenen Ministerpräsidenten der Spagat zwischen konservativ-nationalistischen Kräften und jenen, die sich für eine aufgeschlossene, pro-westliche und pro-amerikanische Haltung der Türkei stark machen, gelingen? Wie lange noch wird er von seinen westlichen Verbündeten Rückendeckung bekommen? Oder sind die momentanen Ausschreitungen eine künftige Absage an einen Premier, der den Weg in eine autoritär regierte, theokratische Türkei zu ebnen scheint?