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"Erdogan wird das durchstehen"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Türkei-Experte Posch über strategische Probleme der Protestbewegung.


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"Wiener Zeitung":Seit mehr als zehn Tagen demonstrieren zehntausende Menschen in der Türkei gegen die zunehmend als autoritär empfundene Politik von Premier Recep Tayyip Erdogan. Die Fronten sind verhärtet. Gibt es denn überhaupt eine realistische Möglichkeit, den Konflikt zu lösen oder zumindest zu entschärfen?Walter Posch: Das glaube ich eher nicht. Zunächst einmal sieht Erdogan vollkommen richtig, dass diese Demonstrationen bei weitem nicht die Schlagkraft und das Ausmaß der Demonstrationen im Jahr 2007 haben. Damals ging die gesamte neue Mittelklasse auf die Straße und hat sich genau über diese Punkte echauffiert. Man hat ihm auch schon 2007 vorgeworfen, dass er gewisse bürgerrechtliche Aspekte nicht einhält. Das hat Erdogan durchgestanden und vor diesem Hintergrund geht er wohl davon aus, dass er auch die aktuellen Proteste durchstehen wird. Außerdem sind wichtige organisatorische Elemente wie die ganzen Atatürk-Vereine im Hintergrund und in der Defensive.

Unter den Demonstranten gibt es Junge und Alte, Linke und Nationalisten, Fußballfans und Kleinunternehmer. Läuft die Protestbewegung nicht Gefahr, an ihren unterschiedlichen Zielen und Ansichten zu scheitern?

Das ist sie schon. Wie soll Erdogan die an ihn gerichtete Rücktrittsforderung denn anders auffassen, als dass die Opposition, die es an der Wahlurne nicht geschafft hat, noch einmal versucht, gegen den Stachel zu löcken und sich an ihm zu rächen. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch sehr schwierig, dass Erdogan einlenkt. Es wäre natürlich interessant, wenn die Proteste mehr gegen konkrete Vorhaben gegangen wären und ihm dann auch Verhandlungsmöglichkeiten gegeben hätten. Aber jemandem, der so einen Wahlerfolg wie beim letzten Mal eingefahren hat, zu sagen, er solle zurücktreten, ist einfach illusorisch.

Droht den türkischen Demonstranten damit auf lange Sicht ein ähnliches Schicksal wie der Occupy- Wall-Street-Bewegung, die ja fast völlig von der Bildfläche verschwunden ist?

Das hängt ein bisschen davon ab, wie sich die radikale Linke und die Anti-Erdogan-Nationalisten neu formieren. Aber Erdogan ist auf jeden Fall sehr souverän und sehr selbstsicher. Das Problem ist, dass es auf der eine Seite die Person Erdogan ist, an der sich das Ganze entzündet, auf der anderen Seite hätte die Protestbewegung größere Chance, wenn man sich auf konkrete Projekte konzentriert. Da Letzteres aber nicht funktioniert, steht die Protestbewegung vor einer sehr schwierigen Situation. Wo sie aber deutlich erfolgreicher als die Demonstranten des Jahres 2007 abschneidet, ist der Umstand, dass Erdogan im Westen mit kritischeren Augen gesehen wird.

Bräuchte die Protestbewegung eine Form der politischen Organisationsstruktur, um erfolgreich zu sein? Ich denke da auch an die Gründung einer Partei.

Das hängt davon ab, was man will. Das säkulare Lager, die moderate Rechte, die moderaten Konservativen, die sozialistischen und sozialdemokratischen Kreise leiden alle darunter, dass sie den Wahlsieg und den Erfolg der AKP bis heute nicht verstanden haben. Die sind immer noch überrascht und leben in ihrem Paralleluniversum. Sie finden heute vom aggressiven Nationalismus über naive Drittwelt-Vorstellungen bis hin zu Anti-Imperialismen alles in der CHP (größte Oppositionspartei, Anm.), nur keinen vernünftigen Plan fürs Wirtschaftswachstum und für Unternehmensgründungen. Leute, die das interessiert, fühlen sich sicherer bei der AKP. Sie finden bei der PDP, also der kurdischen demokratischen Partei, im Endeffekt wenig gesamtstaatliche Konzepte, wenig, was auf die Wirtschaftslage Antwort gibt. Antworten gibt es nur auf Identitätsfragen. Das strukturelle Problem der Opposition ist also nach wie vor da, deswegen würde ich sagen, dass es weniger eine Frage der Organisation und der Masse ist. Man bräuchte eine möglichst breite Bürgerkoalition über aller politischen Grenzen hinweg, um eine neue Politkultur in der Türkei zu schaffen. Eine Politkultur, die in der Lage ist politische Kurskorrekturen anhand von Sachfragen vorzunehmen ohne gleich eine gewählte Regierung zum Rücktritt zwingen zu wollen.

Erdogan genießt in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor starken Rückhalt. Was macht ihn so beliebt?

Ich glaube, dass Erdogan sich im gesamten islamistischen und nationalistischen Spektrum konsolidiert hat. Er gilt als einer, der etwas geschaffen hat. Das gesamte Wirtschaftswachstum, die gesamten Investitionen und der gestiegene Wohlstand der vergangenen Jahre werden ihm zugeschrieben. Erdogan hat zudem die politische Sprache entkrampft. Er ist die Kurdenfrage viel lockerer angegangen, vor allem wenn man das mit seinen Vorgängern und ihrem Hypernationalismus vergleicht. Da hat Erdogan mit seinem islamischen Ansatz nach dem Motto "Wir sind ja alles Brüder" sehr viel Therapeutisches beigetragen. Das war wirklich notwendig und wichtig. Und Erdogan hat natürlich die AKP als sehr wirtschaftsfreundliche Wahlmaschine umgestaltet, die nun einmal effizienter ist als andere. Die haben aber auch härter um Stimmen gearbeitet.

In der AKP wird der Vorwurf der schleichenden Islamisierung, die ja auch zur Sorge der Demonstranten beiträgt, immer verneint. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Die Sorge ist schon berechtigt. Erdogan und vor allem Vize-Premier Bülent Arinc haben sich die Islamisierung auf die Fahnen geschrieben. Die exorbitant hohen Steuern auf Alkohol, dann der soziale Druck, der da ausgeübt wird, all das wird schon islamisch begründet. Damit halten sie natürlich auch ihre fromme Wählerbasis, denn man darf nicht vergessen, dass sich die AKP mittlerweile schon sehr weit von den einfachen, ärmlichen Schichten entfernt hat. Und da sind solche Andeutungen natürlich ähnlich wichtig wie das Kopftuch der Präsidentengattin. Die säkularen Eliten haben aber auch andere Probleme, sie sind sehr urban und gebildet, aber haben momentan kein wirkliches politisches Sprachrohr und auch immer weniger Intellektuelle.

Zur Person



Walter Posch

ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten in der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik.