Türkei-Experte Knaus über die politischen | Folgen und das Verhältnis Gül-Erdogan.
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"Wiener Zeitung":Nach fast zwei Wochen des Protests hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein Einlenken signalisiert. Falls das zuständige Gericht den bereits verhängten Baustopp aufhebt, sollen die Istanbuler in einem Referendum über die Zukunft des Gezi-Parks entscheiden. Was hat diesen Sinneswandel bewirkt?Gerald Knaus: Ich glaube, es war das wachsende Bewusstsein der Kosten, sowohl was das generelle Image betrifft als auch die Wahrnehmung der Türkei als stabile Wirtschaftsmacht. Wenn man sich die türkischen Medien in der vergangenen Woche angesehen hat, dann gab es - auch bei jenen, die der AKP nahe stehen - einerseits hysterische Verschwörungstheorien, auf der anderen Seite aber auch sehr viel Nachdenklichkeit und Warnungen, es nicht zu weit zu treiben. Und es gab natürlich - wenn vielleicht auch verworren, aber doch - Stimmen von AKP-Leuten, die gesagt haben man solle doch einlenken. Die wirkliche wichtige Frage ist meiner Meinung nach: Warum hat es für Erdogan so lange gebraucht, zu einem Kompromiss zu kommen, der eigentlich auch schon vor zwei Wochen möglich gewesen wäre.
Und wieso hat es Ihrer Ansicht nach so lange gedauert?
Da kann man natürlich nur spekulieren, aber mein Gefühl ist, dass es Erdogan auch darum ging, Stärke zu zeigen und er ein zu frühes Einlenken als Gefahr für seine starke Position gesehen hat. Das ist das nicht erste Mal, dass wir das haben. Wir haben auch schon in der Vergangenheit immer wieder starke Rhetorik von Erdogan erlebt - beispielsweise gegen Kurdenführer Abdullah Öcalan vor einigen Monaten. Kurz darauf wurde klar, dass die Regierung Verhandlungen mit Öcalan über einen Friedensdurchbruch führt. Im konkreten Fall hat das Bestreben stark, unerbittlich und entschlossen dazustehen, natürlich einen enorm hohen Preis gekostet, nicht nur was die Verletzten und die Polarisierung der Gesellschaft anbelangt, sondern auch was das Ansehen der Türkei und natürlich von Erdogan selbst betrifft.
Wie lässt sich denn das Verhältnis zwischen Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül beschreiben? Während Erdogan sich immer sehr scharf und unnachgiebig gegenüber den Demonstranten gegeben hat, hat Gül ja eher immer versöhnliche Töne angeschlagen?
Es gibt da zwei Dinge, die man festhalten kann. Das eine ist, dass die AKP seit ihrer Gründung 2001 gemeinsam von Erdogan und Gül geführt wurde. Und bei allem Druck, der immer wieder von außen auf die Partei eingewirkt hat, sind die beiden bisher immer zusammengestanden, wenn es darum ging, das Projekt AKP weiterzuführen. Zum Zweiten steht aber ohne Zweifel fest, dass Gül sein eigener Mann ist. In der Vergangenheit hat Gül immer wieder gezeigt, dass er bereit ist, Dinge anders zu sehen als Erdogan. Das haben wir auch im aktuellen Fall klar gesehen und das hat sicherlich, dazu beigetragen, dass Güls Image in dieser Krise nicht gelitten hat, Erdogans aber schon.
Was bedeutet das für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2014? Erdogan strebt ja das Amt an, will aber zuvor dessen Befugnisse deutlich erweitern.
Mein Gefühl ist, dass sich Erdogans Ambitionen, die Verfassung zu ändern und ein präsidiales System einzuführen, nun deutlich schwerer verwirklichen lassen. Auch deshalb, weil jetzt in der Partei weniger Bereitschaft da ist. Und letztlich glaube ich, dass es Erdogan ist, der einen Rückzieher macht, wenn Gül sagt, er will ein zweites Mal antreten.
War das unterschiedliche Auftreten rund um die Proteste auch Teil einer Good-Cop-Bad-Cop-Strategie?
Nein, das ich glaub nicht. Erdogan war eigentlich sehr konsequent, er hat von Anfang an klargemacht, dass er die Proteste als illegitim betrachtet. Er hat erst eingelenkt, als klar war, die Proteste würden weitergehen. Gül anderseits war auch konsequent und es passt mit dem zusammen, wie er sonst auftritt. Er ist derjenige, der immer wieder darauf hinweist, wie wichtig die EU-Perspektive für die Türkei ist.
Wie mächtig ist Gül denn innerhalb der AKP?
Gül hat durchaus eine eigene Machtbasis. Er kommt ja aus Zentralanatolien, wo die AKP besonders stark ist, und dort schätzen viele gerade seinen Politikstil. Er ist ein Ökonom, aber doch verbindlich und es geht ihm um das Ansehen der Türkei in der Welt. Im Parlament wurden allerdings die meisten Abgeordneten von Erdogan ausgesucht. Aber wenn man sich die Umfragen ansieht und es um die Popularität bei einer direkten Wahl geht, hätte Gül auch wegen seiner Attraktivität für unabhängige Wähler eine reelle Chance gegen Erdogan. Deswegen ist auch die Präsidentschaft so interessant.
Erdogan darf ja laut den Parteistatuten nicht mehr als Ministerpräsident antreten. Wenn Gül eine zweite Amtszeit als Präsident anstrebt, bleibt Erdogan aber ohne Spitzenjob übrig. Ist eine AKP ohne Erdogan vorstellbar?
Ich glaube, eine AKP ohne Erdogan ist durchaus vorstellbar und wäre für türkische Wähler vielleicht sogar attraktiver. Die Partei war nie eine Ein-Personen-Partei und hat auch einen stabilen Kader von jüngeren Leuten. Für die AKP wäre das also nicht so schlecht, aber was macht Erdogan? Mit 59 ist er ja noch nicht so alt. Und Erdogans Machtfülle war zuletzt am Höhepunkt, dahingehend denkt er sicherlich auch, dass er unabdingbar ist. Ob dass für das Land auch so ist, darüber haben die Zweifel in den vergangenen zwei Wochen mit Sicherheit zugenommen. Auch unter jenen, die Erdogans Politik bisher sehr geschätzt haben, sind viele der Meinung, dass er sich mit dieser Krise total verrannt hat und dass ihm die Macht vielleicht doch zu Kopf gestiegen ist.
Zur Person
Gerald Knaus ist Direktor der Europäische Stabilitätsinitiative. Die Denkfabrik beschäftigt sich vor allem mit Südosteuropa und der Türkei.