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Die Corona-Krise führt in der Türkei nicht nur zu politischem Chaos. Auch die Wirtschaft dürfte sie härter treffen als anderswo.
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Der Sturm traf erst spät ein. Als es in Italien bereits mehr als 500 Tote gab und Regierungen in ganz Europa den Lockdown ihrer Länder vorbereiteten, war die Türkei offiziell noch immer coronafrei. Erst am 11. März wurde hier die erste Infektion mit dem neuartigen Virus von den Gesundheitsbehörden verzeichnet.
Seither ist die Corona-Epidemie aber mit umso größerer Wucht über das Land hinweggefegt. Mit 57.000 registrierten Fällen liegt das 82-Millionen-Einwohner-Land laut den Daten der Johns-Hopkins-Universität bereits auf Platz neun der weltweiten Rangliste. Fast explosionsartig ist auch die Zahl der Toten gestiegen. Gab es am 27. März noch knapp unter 100 Tote, so liegt die Türkei knapp 14 Tage später mit 1200 Toten beim zwölffachen Wert. Immer vorausgesetzt natürlich, dass die Zahlen stimmen. So hat die türkische Ärztevereinigung TTB bereits in der vergangenen Woche die offiziellen Statistiken angezweifelt, nachdem die Kurve mit den Todesfällen dort nicht in jenem Maß angestiegen war, wie es angesichts der Zunahmen der Infektionen eigentlich zu erwarten gewesen wäre.
Ausgangssperren führen zu Panik
Kritik gibt es aber nicht nur an den Statistiken. So wirft die Opposition Präsident Recep Tayyip Erdogan und der Regierung vor, zuerst zu zögerlich auf die Krise reagiert zu haben und nun mit schlecht vorbereiteten Ausgangssperren neues Chaos zu stiften. Das Innenministerium hatte am späten Freitagabend kurzfristig eine weitgehende Ausgangssperre wegen der Corona-Krise für 48 Stunden in 31 Städten beziehungsweise Provinzen verhängt, darunter in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir. Die Maßnahmen wurden allerdings erst zwei Stunden vor Beginn der Frist bekannt und blieben auch in vielen Details unklar. Am Freitagabend war es deshalb zu Panikkäufen und großen Menschenansammlungen in den betroffenen Städten gekommen. Für das kommende Wochenende wurde am Montag erneut ein 48-stündige Ausgehverbot von Freitag Mitternacht bis Sonntag Mitternacht angekündigt.
Wer die Verantwortung für die missglückte Ausgangssperre am vergangenen Wochenende trägt, lässt sich nicht klar festmachen. So hatte Innenminister Süleyman Soylu vor dem Lockdown deutlich gemacht, dass die Anordnung von ganz oben, also vom Präsidenten selbst, gekommen war. Am Sonntagabend übernahm allerdings Soylo die volle Verantwortung und bot seinen Rücktritt an, den Erdogan allerdings nicht annahm.
Gemutmaßt wird daher vor allem über einen Machtkampf in der Regierungspartei AKP. Denn Solyu gilt als Rivale von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, wenn es um die Frage geht, wem auf lange Sicht die Rolle des Kronprinzen und potenziellen Nachfolgers des 66-jährigen Präsidenten zufällt. Dass der über eine nicht zu vernachlässigende Hausmacht verfügende Innenminister sich nun loyal zu Erdogan zeigt, könnte sich später vielleicht noch auszahlen.
Angst vor Jobverlust
Für Erdogan ist die Lage ohnehin besonders heikel. Denn die Epidemie wird in der Türkei wohl nicht nur zu vielen tausenden Toten führen, auch die Wirtschaft dürfte den Corona-Schock dort vermutlich schwerer verdauen als in anderen Ländern. So hängen in der Türkei nicht nur mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts am mittlerweile völlig zum Erliegen gekommenen Tourismus. Das Land leidet auch noch immer unter der Wirtschaftskrise des Jahres 2018, die durch US-Sanktionen und einen Kurssturz der Lira noch einmal verschärft worden ist. Entsprechend groß sind daher die Sorgen der Türken, von denen viele Erdogan wegen seiner vor allem zu Beginn erfolgreichen Wirtschaftspolitik gewählt haben. Laut einer aktuellen Umfrage fürchten sich 68 Prozent der Unter-35-Jährigen mehr vor Arbeitslosigkeit als vor dem Virus.