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Erdogans Erfolgsfaktor

Von Ronald Schönhuber

Leitartikel

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Muharrem Ince hat alles mitgebracht, was man als Kandidat mitbringen muss: Der 54-Jährige spricht die Sprache des Volkes, er ist gewitzt, und er hat in den vergangenen Wochen gezeigt, dass er Recep Tayyip Erdogan argumentativ und rhetorisch Paroli bieten kann. Und während der alte und neue Präsident im Wahlkampf vor allem damit geworben hat, im ganzen Land Teehäuser errichten zu wollen, in denen man gratis Getränke und Kuchen bekommt, ist Ince mit einer ganzen Reihe an konkreten politischen Projekten angetreten.

Dass es bei der türkischen Präsidentschaftswahl am Sonntag für Ince dennoch nicht gereicht hat, mag daran gelegen haben, dass er mit seiner Botschaft nicht zu den Wählern durchgedrungen ist. Erdogan und seine AKP kontrollieren den absoluten Großteil der Medien, und vor allem im anatolischen Kernland, wo Erdogan auch diesmal besonders stark abgeschnitten hat, gibt es kaum eine unabhängige Berichterstattung.

Es mag auch daran gelegen haben, dass dem Präsidenten in der Provinz noch immer hoch angerechnet wird, dass er die Türkei in ein anderes Land verwandelt hat. So hat sich das Pro-Kopf-Einkommen in den ersten zehn Jahren nach der Machtübernahme durch Erdogans AKP verdreifacht, selbst in entlegenen Städten gibt es nun moderne Krankenhäuser und gut ausgebaute Straßen. Und auch wenn sie es persönlich vielleicht nie in Anspruch nehmen werden, sind viele Menschen im Hinterland stolz darauf, dass in Istanbul in einigen Monaten der größte Flughafen der Welt eröffnet werden soll und man bereits jetzt per U-Bahn in wenigen Minuten unter dem Bosporus hindurchfahren kann.

Den größten Ausschlag für Erdogans Wahlsieg dürfte aber gegeben haben, dass die Türken angesichts des Verfalls der Lira und der aufziehenden Wirtschaftskrise nicht den Sprung ins Ungewisse wagen wollten. Mit Erdogan wissen die Wähler nicht nur genau, was sie bekommen. Der Präsident gilt nach Ansicht vieler Türken auch noch immer als Garant für politische Stabilität im Land. Und trotz aller autoritären Tendenzen der vergangenen Jahre und des immer wieder verlängerten Ausnahmezustands trauen viele nur ihm zu, ihre Heimat durch die wirtschaftlich wohl schwieriger werdenden Zeiten zu führen.

Ob dem starken Mann der Türkei das ebenso gut gelingen wird wie früher, ist allerdings fraglich. Denn dass die Türkei heute kein Wirtschaftswunderland mehr ist, geht zu einem großen Teil auch auf das Konto von Erdogan und seiner AKP, die mit ihrer gefährlichen Fiskal- und Geldpolitik wesentlichen Anteil daran haben, dass das Leistungsbilanzdefizit, die Inflation und die private Verschuldung aus dem Ruder gelaufen sind.