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Erdogans große Baustelle

Von WZ-Korrespondent Gerd Höhler

Politik

Bisher fehlen Anzeichen, dass der Präsident nach dem Wahlsieg Reformen angeht.


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Istanbul. Als Recep Tayyip Erdogan die Präsidentenwahl in der Türkei gewonnen hatte, machte die Istanbuler Börse erst einmal einen Freudensprung. Die Aktienkurse stiegen am Montagmorgen auf breiter Front, der Leitindex notierte vier Prozent höher. Auch die Lira gewann gegenüber Dollar und Euro hinzu. Aber die Euphorie verflog schnell, zum Handelsschluss notierte der Börsenindex zwei Prozent im Minus. Am Dienstag setzte sich die Talfahrt dann weiter fort.

Damit wird deutlich, dass mit Erdogans Wahlsieg die wirtschaftlichen Sorgen nicht verflogen sind. Im Gegenteil, es könnten neue hinzukommen. Der Wahlausgang sorgte zwar für klare Machtverhältnisse, denn Erdogan konnte sich bereits im ersten Wahlgang eine weitere fünfjährige Amtszeit als Staatschef sichern. Die Zitterpartie einer Stichwahl, die viele Demoskopen für möglich hielten, bleibt der Wirtschaft damit erspart. Aber welchen Kurs wird Erdogan nun in der Wirtschafts- und Finanzpolitik einschlagen? Die türkische Wirtschaft verzeichnete im ersten Quartal zwar ein rekordverdächtiges Wachstum von 7,4 Prozent. Doch das Wachstum steht auf tönernen Füßen. Die Regierung feuerte die Konjunktur mit staatlichen Kreditbürgschaften, Steuervergünstigungen und großen Infrastrukturprojekten an. Wachstum um jeden Preis war bisher Erdogans Motto. Aber nun läuft die Inflation mit rund zwölf Prozent davon, die Lira hat seit Jahresbeginn fast ein Viertel ihres Außenwerts verloren, ausländische Anleger und Investoren ziehen sich zurück - alarmierend für die Türkei, die wie kaum ein zweites Schwellenland zum Ausgleich ihrer hohen Leistungsbilanzdefizite auf ausländisches Kapital angewiesen ist.

Ökonomen warnen zudem vor einer Überhitzung der Konjunktur, die zum Absturz in eine Rezession führen könnte. Die Arbeitslosenquote von über zehn Prozent ist ein Warnsignal. Nicht zuletzt deshalb zog Erdogan die eigentlich erst im November 2019 fälligen Wahlen vor. "Investoren brauchen Sicherheit und Planbarkeit", sagt Gregor Holek, Fondsmanager und Türkei-Experte bei Raiffeisen Capital Management in Wien. Aus dieser Sicht sei das klare Wahlergebnis positiv. "Auf der anderen Seite ist wirtschaftspolitisch in den letzten Jahren vieles aus dem Ruder gelaufen und eine Fortführung des bisherigen Kurses nicht wünschenswert", meint der Experte. Allen seien "die irritierenden Wortmeldungen des Präsidenten zur Wirtschaft noch zu gut in Erinnerung", sagt Holek.

Gemeint ist damit vor allem Erdogans Dauerstreit mit der türkischen Zentralbank um die Geldpolitik. Zwar erhöhten die Währungshüter vor der Wahl gegen der erklärten Willen Erdogans die Leitzinsen, um die Inflation und die Lira-Abwertung zu bremsen. Aber im Wahlkampf kündigte der Staatschef bereits an, er werde in seiner nächsten Amtszeit die Geldpolitik selbst übernehmen: "Ihr werdet sehen, wie wir uns um die Zinsen kümmern werden, wenn Ihr mir erst einmal die Vollmacht dafür gegeben habt", rief Erdogan seinen Anhängern zu - eine Hiobsbotschaft für die Kapitalmärkte.

Sorge um die Bildungspolitik

Erdogan hat bereits durchblicken lassen, dass er unter dem neuen Präsidialsystem, das nun in Kraft tritt, die Zuständigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik neu ordnen will. Sie sollen von bisher sechs auf drei Ministerien konzentriert werden. Offen ist, wer die neuen Schlüsselministerien führen wird - und wie viele Kompetenzen Erdogan selbst an sich ziehen wird.

Bereits jetzt aber sieht sich die neue Regierung mit einer langen Liste an Forderungen konfrontiert. Konkret wurde dabei vor allem der türkische Industrieverband Tüsiad, der bereits unmittelbar nach der Wahl erklärt hatte, das Land stehe nun vor Aufgaben, die "dringende Aufmerksamkeit erfordern". So wünscht sich Tüsad nicht nur mehr fiskalische Disziplin und einen entschlosseneren Kampf gegen die Inflation. Die Industrievertreter fordern auch die Unabhängigkeit der Notenbank ein und plädieren für Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sowie für eine Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses.

Tüsiad unterstrich zudem die Notwendigkeit einer Bildungsreform "unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen". Seit langem gibt es in Wirtschaftskreisen die Sorge, dass Erdogans islamisch-konservativ geprägte Bildungspolitik das Land im internationalen Wettbewerb zurückwerfen wird. Aber Erdogan hat bisher nicht erkennen lassen, dass er die seit Jahren verschleppten Reformen in Angriff nehmen will. Er hat Wahlgeschenke versprochen, die er nun verteilen muss: Bonuszahlungen für zwölf Millionen Pensionisten, Stundungen für säumige Steuerzahler, Subventionen für die Bauern. Die Wohltaten sollen umgerechnet 4,4 Milliarden Euro kosten. Dabei ist das Haushaltsdefizit in den ersten fünf Monaten gegenüber dem Vorjahr schon um fast 80 Prozent gestiegen.