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Im Windschatten der Angriffe auf den Islamischen Staat bekämpft die türkische Regierung nun die Kurden.
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Der vermutlich vom IS durchgeführte Anschlag, der 31 junge Aktivisten in Suruç das Leben gekostet hatte, führte nicht nur zu Luftangriffen der Türkei auf den IS. Vielmehr führt diese nun auch einen Krieg gegen die Gegner des IS. Niemand hat in den vergangenen beiden Jahren erfolgreicher vor Ort die Dschihadisten des IS bekämpft als die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ der syrischen Kurden. Dabei konnten sie auch auf die Luftunterstützung der USA und auf verbündete Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) zurückgreifen.
Nun hat die Türkei genau diese bisherigen Verbündeten des Nato-Partners angegriffen. Seit Tagen fliegt die türkische Armee Luftangriffe auf Stellungen der PKK im Irak, was auch dort zu Protesten oppositioneller kurdischer Parteien, wie der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), geführt hat. In der Nacht auf Montag wurden jedoch auch YPG- und FSA-Stellungen in Syrien angegriffen.
Im Inland nutzt die Türkei die Verhaftungswelle gegen Anhänger des IS, um neben Aktivisten der PKK und anderer linker Gruppen auch Aktivisten der legalen Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu verhaften. Der Waffenstillstand mit der PKK ist längst Geschichte, und in einigen kurdischen Städten im Südosten scheint derzeit eine Art Volksaufstand zu toben, der weit über den Kern der PKK-Anhänger hinaus geht.
Präsident Recep Tayyip Erdogan betreibt ein gefährliches Spiel: Die kurdische Bewegung in der Türkei ist heute politisch und militärisch stärker denn je. Sollte es, wie viele kurdische und türkische Oppositionelle vermuten, wirklich sein Kalkül sein, mittels einer Art Kriegskabinett die Abwahl seiner AKP bis zu Neuwahlen zu überbrücken und dann doch noch eine absolute Mehrheit heimzuholen, könnte er sich damit völlig verrechnet haben. Solange sich die PKK zumindest mit Terroranschlägen in den türkischen Städten zurückhält, könnte Erdogan damit auch zu einer Stärkung und Einigung der Opposition beitragen. Andererseits zieht der selbstherrliche Staatschef sein Land damit direkt in die Bürgerkriege in Syrien und im Irak hinein, deren Kriegsparteien auch innerhalb der Türkei längst Gewehr bei Fuß stehen. Dass die Türkei selbst zum Schauplatz eines staatsübergreifenden regionalen Bürgerkrieges wird, kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
Zu einer Eskalation trägt bei, dass sich auch die PKK selbst im Aufwind befindet und manche Kräfte in der kurdischen Guerilla nun auch die Chance sehen könnten, in der Türkei selbst bewaffnete Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen. Eine politische Niederlage der legalen HDP würde innerkurdisch das Gewicht wieder stärker in Richtung einer bewaffneten Option verlagern.
Verhindern könnten diese Entwicklung derzeit wohl nur gemäßigte Kräfte in der AKP und die Nato-Partner der Türkei. Sie könnten Erdogan klarmachen, dass sie einen Krieg gegen die Feinde des IS nicht unterstützen und die türkische Regierung gegebenenfalls auch fallen lassen würden. Wenn dies nicht geschieht, steht der Türkei nun statt eines Friedensprozesses ein langwieriger Bürgerkrieg bevor, dessen Ausgang ebenso ungewiss ist wie die Zahl der zukünftigen Opfer.