Analyse: Die Anatomie des Wochenend-Putsches in der Türkei.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ankara/Wien. Der Putschversuch vom vergangenen Wochenende, ein Déjà-vu, allerdings unter anderem Vorzeichen: Am 27. Mai 1960 sah das Militär die demokratische Ordnung in der Türkei bedroht und stürzte die Regierung. Der Vorwurf lautete damals: Islamische Tendenzen und zunehmendes autoritäres Gehabe des Premiers.
Schnellvorlauf zum 15. Juli 2016: Islamische Tendenzen der AKP-Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan waren vielen Generälen seit langem ein Dorn im Auge. Ein Eingreifen der Armee stünde also durchaus in der Tradition der türkischen Streitkräfte, genauso wie sie das 1971, 1980 und 1997 getan hatte.
Der Drahtzieher des Putsches war für Erdogan rasch ausgemacht: Fatullah Gülen, sein ehemaliger Weggefährte und heutiger erbitterter Gegner, der seit 1999 im selbst gewählten Exil in Saylorsburg, Pennsylvania, USA lebt. Erdogans Misstrauen gegenüber Washington hat einen Namen: Gülen. Denn Ankara hält Gülen schon seit Längerem für einen Handlanger der USA. Der bosnische Politikwissenschafter Osman Softic schrieb in einem Artikel für "Open Democracy" im Jahr 2011 über die Gründe: Es sei, so Softic, durchaus denkbar, dass die USA aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Politik Erdogans die Gülen-Bewegung stützten, um die Türkei zu destabilisieren und ihr angesichts des Versagens der alten säkularen kemalistischen Eliten ein "recyceltes" säkulares Gesellschaftsmodell aufzudrücken, das auch von einer großen Mehrzahl konservativer Moslems akzeptiert werden könnte. Unbestritten ist, darauf weist auch der Professor an der Harvard Universität, Dani Rodrik, in einer Analyse für "Project Syndicate" hin, dass Gülen viel Einfluss in der Armee hat. Gülen selbst wiederum spricht davon, dass Erdogan selbst hinter der "Putschinszenierung" steht. Die einfachste Erklärung ist aber freilich, dass der Putsch schlicht das Werk frustrierter Generäle und Offiziere war.
Fakten schaffen als Ziel
Naunilhan Sigh, Professor am Air War College in Montgomery, Alabama (USA) schreibt in seinem Buch "Seizing Power" über die Anatomie eines Putsches. In der Essenz handelt es sich bei einem Putsch um ein "Koordinierungs-Spiel": Die Anführer des Putsches müssen die Mitverschwörer davon überzeugen, dass der Putsch erfolgreich sein wird. Man macht mit, wenn andere mitmachen, man bleibt daheim oder in der Kaserne, wenn andere daheim oder in der Kaserne bleiben. Das Rezept eines erfolgreichen Putsches laut Sigh: "Fakten schaffen". Das versuchten die Putschisten zu beginn. Sie besetzen das staatliche Fernsehen. Diesen Teil des Drehbuchs haben die Putschisten beachtet. Die Sperre der Bosporus-Brücke und die Soldaten vor dem Atatürk-Denkmal sowie die Tiefflüge mit Kampfflugzeugen über Istanbul und Ankara sollten als Zeichen der Stärke der Putschisten dienen. Auch das entspricht dem von Sigh beschriebenen Putsch-Drehbuch. Die Luft-Angriffe auf die Geheimdienst- und Polizeizentrale (Zentren der Erdogan-Loyalisten) waren wohl dazu gedacht, die Putsch-Gegner niederzukämpfen. Präsident Erdogan sollte in seinem Urlaubsdomizil mit einem Luftangriff ausgeschaltet werden.
Den Rebellen gelang es aber weder, den Rest der Armee von der eigenen Stärke zu überzeugen, noch konnten Sie den Präsidenten neutralisieren oder zumindest isolieren: Denn sie erlangten weder die Kontrolle über die Handy-Netze (im Gegenteil, die Regierung konnte SMS an die Handykunden in der Türkei versenden) noch über die TV-Sender und das Internet. So konnte sich Erdogan in einem bizarren TV-Auftritt auf CNN Türk via Apple-Facetime an die Bevölkerung wenden und über Social Media Botschaften an die Bürger verschicken. Hatten die Obristen und Generäle übersehen, dass in einer vernetzten, multimedialen Welt die Besetzung eines TV-Senders nicht mehr ausreicht? Und dann ist da noch der Luft-Angriff auf das Parlament. Er ergibt keinen Sinn, denn warum sollte die Junta, die angeblich die Demokratie vor Erdogan schützen will, den Tempel der Demokratie, das Parlament, bombardieren?
In einer Analyse in der "New York Times" vom Wochenende wird auch darauf hingewiesen, dass die Putschführer - im Gegensatz zu den Generälen im Putschjahr 1997 - auch nicht den Kontakt zu oppositionellen zivilgesellschaftlichen Gruppen gesucht haben. Sie seien von Anfang an politisch isoliert gewesen.
Syrien als Worst Case
Die Putschisten haben somit letztlich Präsident Erdogan in die Hände gespielt: Experten sprechen bereits von "Erdogans Reichstagsbrand". Adolf Hitler nutzte bekanntlich den Brandanschlag auf das Reichstagsgebäude in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 zur Etablierung der Nazi-Diktatur. Schon am Tag nach dem Brand waren die Grundrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt. "Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir die Konsolidierung einer neuen Form eines autoritären Regimes mit populistischen Anflügen beobachten", schreibt Ayse Kadoglu, Professorin an der Istanbuler Sabanc University, in einem Essay in "Open Democracy" - auch Kadoglu verwendet in ihrem Essay die Reichtstagsbrand-Analogie: "Mit dem scharfen Vorgehen gegen Medien, akademische Freiheiten, Verhaftungen und immer härterer Gewalt im Südosten des Landes, mussten die Bürger der Türkei immer mehr Einschränkungen ihrer Freiheiten in den vergangenen Jahren hinnehmen. Der versuchte coup d’état vom 15. Juli ist da wie der letzte Nagel im Sarg." Nach den Verhaftungswellen und Säuberungsaktionen der vergangenen Tage sieht es so aus, als wolle Erdogan den Putschversuch zum Ausbau seiner Allmacht nutzen: Seit langem strebt er eine Verfassungsreform an, die das Land zu einer auf ihn zugeschnittenen Präsidial-Republik umbauen will.
Experten sprechen bereits vom Iran 1979-Moment für die Türkei: Wie damals Ayatollah Ruhollah Khomeini könnte Erdogan die kemalistische, säkulare Türkei hinwegfegen und weiter auf der Welle der islamistischen Loyalisten reiten, die er in der Putschnacht gestartet hat, fürchten sie.
Was aber, wenn der Putsch erfolgreich gewesen wäre? Die Folgen wären unabsehbar gewesen, ein offener Bürgerkrieg zwischen säkularen Putschisten und Islamisten durchaus denkbar. Für ein derartiges Worst-Case-Szenario müsste man nur über die Grenze nach Syrien blicken.