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Ist der vor 125 Jahren verstorbene Siegfried Marcus auch der Erfinder des Automobils?
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Hat er oder hat er nicht? - Nichts weniger als das Automobil erfunden nämlich. Die einen sehen in dem gebürtigen Mecklenburger Siegfried Marcus einen automotiven Pionier, der deutlich vor Carl Benz ein Automobil in Bewegung gesetzt hat. Die anderen betrachten ihn als einen vielseitig interessierten Tüftler, der sich unter anderem damit beschäftigte, wie aus dem Zusammenspiel von Benzin, Luft und elektrischem Funken eine kontrollierte Explosion derart erfolgen konnte, dass sich ein Motor in Gang setzte, der wiederum als Antrieb dienen könnte, zum Beispiel für einen Wagen.
Ihn selbst focht die Frage über sein automobilgeschichtliches Verdienst nie an. Er hatte im Laufe seines Lebens über 130 Patente in mehr als einem Dutzend Staaten angemeldet, aber nie ein solches für ein Automobil beantragt, geschweige denn behauptet, selbiges erfunden zu haben.
Umzug nach Wien
Doch wer war dieser Mann, der am 18. September 1831 als jüngster von drei Söhnen als Siegfried Samuel Liepmann Marcus im mecklenburgischen Malchin auf die Welt gekommen war? Er entstammte einer gut situierten jüdischen Kaufmannsfamilie, und sein Vater fungierte als Sprecher des "Israelitischen Oberrats" in Schwerin. Als junger Mann schon früh an Mechanik und Chemie interessiert, war Siegfried Marcus 1848 nach Berlin gekommen und dürfte dort eine Beschäftigung bei Siemens & Halske aufgenommen haben. Das Unternehmen hatte gerade neben dem Zeigertelegrafen auch das isolierte Kupferkabel erfunden und stand mitten in den Bauarbeiten zu Europas damals längster, teilweise in der Erde verlegter Telegraphenlinie von Berlin nach Frankfurt am Main.
Die neue Technik erlaubte die Übertragung von Nachrichten in Buchstaben und ersetzte die bis dahin praktizierte Methode in Form optischer Zeichen, wie sie vereinfacht heute noch bei mechanischen Eisenbahnsignalanlagen angewandt wird. Wiewohl Marcus hier mit der Telegraphie ein interessantes Betätigungsfeld gefunden hatte, auf dem er noch einige Zeit aktiv bleiben sollte, verließ er spätestens 1852 das Unternehmen.
Im selben Jahr zog er - vermutlich, um sich dem preußischen Militärdienst zu entziehen - nach Wien. Hier trat er in die Werkstatt von Carl Eduard Kraft, die unter anderem Vermessungsinstrumente zum Bau der österreichischen Eisenbahnen und später zur Projektierung des Suezkanals lieferte, ein. Danach wechselte er als Laborant zu Carl Ludwig, dem wohl bedeutendsten Physiologen seiner Zeit, an die k.u.k. Medizinisch-Chirurgische Militärakademie des Josephinums am Alsergrund.

1856 machte sich Marcus selbständig und ließ sich in der Mariahilfer Straße 107 nieder. Eines seiner ersten Patente war - wie einem Eintrag in der "Wiener Zeitung" vom 1. April 1857 zu entnehmen ist - eine Verbesserung des Dampfsicherheitsventils. Bald firmierte er unter "Telegraphen-Bauanstalt", in den 1860er Jahren soll er seine neuen Zeigertelegraphen bei der österreichischen Eisenbahn zum Einsatz gebracht haben. Einige Zeit scheint Marcus auf dem Gebiet der Telegraphie recht erfolgreich gewesen zu sein, doch à la longue war gegen die Übermacht großer Firmen wie Siemens & Halske nicht zu bestehen.
Der bald erfolgte Wechsel auf das Gebiet der Elektrotechnik brachte ihm ein derartiges Renommee ein, dass sogar Kaiserin Sisi seine Dienste in Anspruch nahm und sich von ihm in ihrem Schlafzimmer in der Hofburg eine elektrische Klingel installieren ließ. Die Erfindung des magnetelektrischen Zünders, eines Kolbenapparats mit T-Griff, wie man ihn aus Westernfilmen kennt, dürfte ihm durch den Verkauf an verschiedene Regierungen einigen kommerziellen Erfolg beschert haben.
Gut vernetzt
Mag Marcus mit seiner Zwei-Gehilfen-Werkstatt auch den Anschein eines Eigenbrötlers erwecken, er war gut vernetzt und sein Wissen absolut auf der Höhe der Zeit. Dies belegt auch seine Korrespondenz mit damaligen Geistesgrößen wie etwa dem Physiker Ernst Mach, dem Elektrotechniker Heinrich Daniel Rühmkorff und Hermann von Helmholtz, einem der einflussreichsten Naturwissenschafter seiner Zeit.
Auf der Weltausstellung in Paris 1867 präsentierte Marcus Feldtelegraphen und Minenzünder, bekam von der internationalen Jury eine Silbermedaille zuerkannt und in weiterer Folge von Kaiser Franz Joseph das Goldene Verdienstkreuz verliehen. Seit Beginn der 1860er Jahre trieb Marcus die Idee um, für Beleuchtungszwecke ein Benzin-Luft-Gemisch als Alternative zum Leuchtgas einzusetzen, und er entwickelte den Vergaser. Die aus den Brennern der Lampen strömenden Benzindämpfe wurden mittels einer langen Stange, an deren Ende eine offene Flamme brannte, entzündet. Ein riskantes Unterfangen, bei dem es zu gar nicht so kleinen Explosionen kommen konnte. Möglicherweise hatte Marcus durch eine solche einen Finger an der rechten Hand verloren. Massentauglich war diese Art von Lampen nicht, schließlich setzte sich die sicherere und auch billigere Petroleum-Dochtlampe durch.
Seine Entwicklungen führten Marcus konsequenterweise auf das Gebiet des Verbrennungsmotors: Er verfügte über einen Vergaser, der die Herstellung eines zweckmäßigen Benzin-Luft-Gemisches ermöglichte, und über einen Minenzünder, aus dem sich eine Zündanlage ableiten ließ: Voraussetzungen für eine neuartige Antriebsmethode.

Denn die ersten Fahrzeuge, die nicht von Pferden gezogen werden mussten, wurden entsprechend dem damaligen technischen Entwicklungsstand von Dampf angetrieben. 1769 erprobte der französische Artillerieoffizier Nicholas Joseph Cugnot - wenig erfolgreich - einen entsprechenden Prototypen. Auch Omnibusse, mit denen seit den 1830er Jahren in England, dem Ursprungsland der Dampflokomotive, der öffentlichen Nahverkehr betrieben wurde, bedienten sich vorübergehend dieser Technologie.
Bereits 1813 verwendete der Schweizer Francois Isaac de Rivaz ein Gemisch aus Wasserstoff, Steinkohlegas und Luft, um einen Motor in Gang zu setzen, der einen Handwagen antrieb. Und der Belgier Étienne Lenoir, Erfinder des Gasmotors, legte 1863 mit seinem "Hippomobil" eine Strecke von 18 Kilometern zurück! Fahrzeuge, die sich aus eigener Kraft fortbewegten, also Automobile im eigentlichen Sinn, gab es bereits, ehe sich die Erfindungen von Nicolaus Otto, Carl Benz, Gottlieb Daimler, Wilhelm Maybach - und Siegfried Marcus Bahn brachen.
Spätestens 1870 (anderen, wenig verlässlichen Angaben zufolge bereits 1864) montierte Marcus einen mit Benzin betriebenen Zweitaktverbrennungsmotor in einem hohen vertikalen Rahmen auf einen vierrädrigen Karren. In einem Metallfass lagerte der Treibstoff, die Hinterräder fungierten gleichzeitig als Schwungräder. Bei der nicht einwandfrei zu datierenden Erstausfahrt soll der Wagen mit einem Passagier eine Strecke von 200 Metern bewältigt haben. Marcus war vor allem daran gelegen zu beweisen, dass der Wagen sein Eigengewicht und eine gewisse Nutzlast fortzubewegen vermochte. Mehrere Ausfahrten in den 1870er Jahren (wahrscheinlich gemeinsam mit Gästen aus dem von Marcus gerne frequentierten Café Gabesam) sind zuverlässig belegt.
Spartanisches Modell
Marcus ist das Verdienst zuzusprechen, das erste Benzinfahrzeug der Welt geschaffen und in Bewegung gesetzt zu haben, und zwar mindestens eineinhalb Jahrzehnte vor Carl Benz und Gottlieb Daimler. Dass er sich in der Automobilgeschichte, die sich so gewiss ist, dass sie erst mit den beiden deutschen Pionieren begonnen hat, dennoch hinter ihnen einreihen muss, hat mit der spartanischen Ausstattung des motorisierten Handkarrens, der allgemein als Erster Marcus-Wagen bezeichnet wird, zu tun: keine Bremsen, keine Lenkung, kein Getriebe, keine Kupplung, keine Sitze. Auch wenn für die Einsätze, die der Jungfernfahrt folgten, zumindest Sitze und eine primitive Lenkung nachgerüstet wurden, so stellte man dem Wagen in Abrede, ein betriebsbrauchbares Automobil zu sein. Dies beansprucht der Dreiradwagen von Carl Benz von 1886 für sich.
Anders sieht es da schon beim Zweiten Marcus-Wagen aus, der mit einem wassergekühlten Viertaktmotor bis zu vier Personen befördern konnte und mit der magnetelektrischen Abreißzündung und dem Bürstenvergaser auch herausragende konstruktive Details aufwies. An ihm entzündete sich jedoch lange die Frage nach dem Jahr seiner Entstehung: 1875 oder 1888/89? Vor oder nach Benz?
Die Schuld an der Verwirrung trifft wohl Ludwig Czischek. Der Professor für Maschinenbau an der Wiener Staatsgewerbeschule und Erfinder des Dampfdreirads führte in einem 1898 publizierten Artikel 1875 als Baujahr an. In den der Veröffentlichung vorangegangen Treffen mit Marcus dürfte es schlichtweg zu einem Missverständnis zwischen den beiden Männern gekommen sein. Am 30. Juni 1898, kurz nachdem sein Wagen auf der "Jubiläumsausstellung" in Wien einmal noch zu sehen war, erlag Marcus einem Herzinfarkt. Bald entstand die Legende vom verkannten Genie - und hielt sich lange.
Marcus-Hype nach 45

Dass die Nationalsozialisten den Juden Marcus aus den automotiven Annalen strichen und auch das 1932 enthüllte Denkmal im Wiener Ressel-Park abtragen ließen, schien geradewegs ein Beweis für eine Geschichtsfälschung zugunsten der Deutschen Benz und Daimler zu sein. Nach dem Krieg setzte hierzulande ein kleiner Marcus-Hype ein. Das Denkmal wurde 1948 wieder aufgestellt, der Wagen von Alfred Buberl - bis zu seinem Tod 2010 ein streitbarer Verfechter der 1875-These - 1950 restauriert und mit großem Pomp und Wochenschau-Trara der Öffentlichkeit vorgeführt.
Erst ab den 1960er Jahren begannen Technikhistoriker - von Gustav Goldbeck und Hans Seper bis Ursula Bürbaumer und Horst Hardenberg -, die Sache wieder geradezurücken. Der Zweite Marcus-Wagen war früh in den Besitz des ÖAMTC respektive dessen Vorläuferorganisation gelangt und überdauerte die Naziherrschaft auf wundersame Weise im Technischen Museum Wien. Dort stellt das älteste noch existente Benzinauto der Welt heute ein Glanzstück der Collection dar (und eine Replica steht für Ausfahrten bereit).
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass dem erfinderischen Tausendsassa die Teilung des Stroms mittels einer Parallelschaltung gelang, wodurch beispielsweise der gleichzeitige Betrieb mehrerer Lampen möglich war. Solcher zwei wurden 1878 vor dem Carltheater installiert. Es war dies die erste öffentliche elektrische Beleuchtung Wiens.
Literaturhinweis:
Norbert Böttcher: Siegfried Marcus. Jüdische Miniaturen, Band 26. Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz, 2005.
Thomas Karny, geboren 1964, lebt als Sozialpädagoge, Autor und Journalist in Graz. Mehrere Buchveröffentlichungen zur Zeit- und Motorsportgeschichte.