)
Unzählige Faktoren müssen mitspielen, damit eine Innovation zum durchschlagenden Erfolg wird, zeigt das Beispiel MP3.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. "Der Erfolg des Teams beruht auf einer Kombination von Vision, Überstunden und Sturheit", schrieb Max Rauner in der deutschen "Zeit" zum Musikformat MP3 in den 1990er Jahren. Karlheinz Brandenburg, der Erfinder des Verfahrens zur Kompression von digitalen Tondateien, würde heute den Begriff "Sturheit" streichen: "Man hat eine Idee und dann fängt die Arbeit erst an. Wir haben viele Jahre daran gearbeitet", erklärt er nüchtern.
Keine Technologie hat die Musikindustrie so entthront wie die Möglichkeit, digital gespeicherte Lieder aus dem Internet herunterzuladen. Keine Erfindung hat die Plattenfirmen derart abgemeldet wie MP3. Die Technologie brachte einen gnadenlosen Preisverfall, weil plötzlich Menschen überall und jederzeit Musik hören konnten, ohne CDs zu kaufen.
Warum hat niemand diese Entwicklung im Voraus erahnt? Ein Grund dafür könnte sein, dass die Anwendung von selbst entstand. Denn ursprünglich waren die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen in Erlangen (IIS) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg einer anderen Frage auf der Spur gewesen. Sie hatten Ansinnen, die Grenzen der Telefonie auszuloten.
"In den späten 1970er Jahren war mein Doktorvater, Dieter Seitzer, der Ansicht, dass man über Telefonleitungen mehr als Sprache in guter Qualität übertragen können müsste", sagt Brandenburg zur "Wiener Zeitung". Am Donnerstag hielt er bei einer "Hedy Lamarr Lecture" des Medienhaus Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) einen Vortrag.
Mehrere Entwicklungen zur gleichen Zeit
Die Patentprüfer gaben zu bedenken, dass Musik ein Vielfaches der vorhandenen Übertragungskapazitäten benötige. 1982 suchte Seitzer daher einen Doktoranden, der gewillt war, an einem neuen Audiocodierstandard zu arbeiten. "Ich hielt das für interessant - selbst wenn ich dem Patentprüfer zunächst einmal recht geben musste", blickt Brandenburg zurück und lacht: "Dann habe ich jahrelang daran gebastelt, mich selbst Lügen zu strafen." Wäre er der Einzige gewesen, wäre es vielleicht auch nur dabei geblieben.
Doch die Mühlen der Zeit drehten sich mit Brandenburg. "Es gab eine ganze Menge technischer Entwicklungen, die gleichzeitig liefen, das Format MP3 war nur eine davon", erzählt er. Mitte der 1980er Jahre schlug das Deutsche Institut für Rundfunktechnik vor, den Hörfunk zu digitalisieren. Mit europäischen Fördergeldern wurde ein Projekt namens "Digital Audio Broadcasting" zur Modernisierung der Übertragungskette gestartet. Um teure Bandbreiten zu sparen, benötigte man Datenreduktionsverfahren für Ton und Musik. 1988 entstand dann die Idee eines Standard-Verfahrens für digitale Tonfilm-Übertragung, an dem die Erlanger Forscher ebenfalls mitarbeiteten. "Wir hatten die Illusion, dass die beste Lösung gewinnt. Aber so einfach ist es nicht bei Standardisierungsgremien" sagt der Experte.
Zunächst kam die Konkurrenz zum Zug, die einen Kompromiss zwischen Komplexität und Tonqualität vorgestellt hatte. Das Verfahren passte gut mit handelsüblichen Endgeräten zusammen. "Obwohl wir meinten, die beste Technologie erfunden zu haben, wollte sie doch niemand lizensieren", beschreibt Brandenburg die Hürde, vor der sein Team damals stand. Um den Übergang von der Erfindung zur Innovation zu schaffen, brauchten die Erlanger Forscher also eine Erleuchtung. Sie kamen auf die Idee, das Internet als Markt zu nutzen. Vom Medium für Marketing und Information sollte das World Wide Web zur Musikquelle avancieren.
Den Markt mit neuer Technologie impfen
Die Informatiker schrieben eine Software, mit der Computer hochqualitative Musikdateien lesen konnten. "Wir nutzten das Prinzip ,try before buy‘: Man konnte ein paar Takte gratis hören, doch wer das ganze Lied wollte, musste zahlen. Wir verteilten Windows-basierte Player - impften sozusagen den Markt damit. Wir gaben Hilfestellungen, damit die Leute leicht an die Technologie kamen, was für uns Werbung machte. Doch wir sagten nie, es sei frei für alle", betont Brandenburg.
Die Forscher reisten durch die USA und stellten ihr Produkt vor. Das Ergebnis war ein Vertrag mit dem Softwareriesen Microsoft, der seit 1996 den Erlanger MP3- Dekodierer (Wandler für digitale Signale) mit jedem Exemplar von Windows ausgeliefert. Konkurrent Apple statte jedes iPhone mit Erlanger Technologie aus.
Die spätere unautorisierte Verbreitung von Musik im Internet ist einem Unfall geschuldet. "Zumindest wurden wir dadurch darauf aufmerksam", erklärt der Ton- Experte. Seine Firma hatte die Preise für Dekodierer für Endverbraucher günstig gehalten. Die Enkodierer, mit denen Musiker den PC bespielen können, begriff sie hingegen als teures Profi-Produkt. Ein australischer Student sah das anders. Mit einer gestohlenen Kreditkartennummer kaufte er die Software, kopierte ihren Aufbau, schrieb eine andere Benutzeroberfläche dazu und legte das Ganze auf eine amerikanische Uni-Website mit dem Vermerk: "Das ist Freeware, danke an Fraunhofer."
Die Erlanger mussten daraufhin auch die Preise für die Enkodierer senken. "Der Software-Dieb hat aber indirekt dazu beigetragen, dass alles schneller ging, denn im Internet wurde seine Idee rasch bekannt", erklärt Brandenburg. Erste Firmen bauten MP3-Player, die US-Musikindustrie verlor Gerichtsprozesse gegen den Vertrieb der Geräte und die Medien berichteten rauf und runter: "So viel Werbung hätte sich unsere Branche nie leisten können" - MP3 eroberte die Welt.
Folgen für die Gesellschaft sind meist schwer abschätzbar
Erst heute erlebt die Musikwirtschaft nach Jahren der Verluste eine Art Erholung. Der Online-Markt wächst, die Schallplatte wird als Luxusgut für Audiophile vermarktet. Brandenburg hat keine Schuldgefühle. "Wenn MP3 nicht die Revolution ausgelöst hätte, wäre es etwas anderes gewesen. MP3 gilt nur als Symbol für diese Entwicklungen. Wir sprachen Mitte der 1990er Jahren mit der Musikindustrie, aber sie war nicht zugänglich. Als sie aufgewacht ist 1998, war es zu spät."
"Zu MP3 gab es keine systematische Folgenabschätzung", sagt Michael Nentwich, Direktor des Instituts für Technikfolgenabschätzung der ÖAW in Wien. "Erst im Nachhinein wurde reflektiert. Heute wissen wir, dass es eine disruptive Technologie ist: Sie begann klein, hat aber große Wirkungen für jeden Einzelnen."
MP3 gab den Startschuss für Debatten zum Urheberrecht. Das Komprimierungsverfahren veränderte die Hörgewohnheiten und den Konsum von Musik. Es stieß Innovationen an wie den iPod, der tausende Lieder speichern kann und somit eine ganze Musikbibliothek in die Hosentasche bringt. Für den Verbraucher ist der Musikkonsum günstiger, während Musiker weitaus geringere Tantiemen erhalten.
MP3 ist bei Weitem nicht die einzige Technologie, deren Folgen niemand ahnte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Auto vor allem deswegen bejubelt, weil dadurch weniger Pferdemist auf den Straßen lag - es also nicht nur schneller war, sondern auch besser roch. Mit dem Internet wollte der Physiker Tim Barnard Lee eine Austauschplattform für Forscher am Europäischen Forschungszentrum Cern schaffen. Und die österreichische Filmschauspielerin Hedy Lamarr konnte sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie sehr das Handy die Gesellschaft verändern würde, als sie das Frequenzsprungverfahren erfand, das die Basis für den Mobilfunk ist.
Was also können wir abschätzen? Krempelt jede große Erfindung die Welt um? "Was zur Untersuchung kommt, hängt von der Finanzierung ab, vom Auftraggeber und vom Adressaten", sagt Nentwich: "Jedoch kann man nicht alles abschätzen. Selbst wenn ein hochbegabtes Team an Technikfolgenabschätzern Ende des 19. Jahrhunderts untersucht hätte, ob Verbrennungskraftfahrzeuge gut oder schlecht sind, wären sie nie und nimmer draufgekommen, was wir jetzt für Probleme haben damit."