Das letzte große Ereignis unter französischem EU-Vorsitz hat dem Prestige der Nation, die sich selbst immer noch gerne als "Grande" begreift, sichtlich gut getan. Die Innenpolitik kann nun wieder ihren Lauf nehmen, was besonders Präsident Jacques Chirac Kopfzerbrechen bereiten dürfte.
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Die Amtsperiode des konservativen Staatspräsidenten wird von politischen Affären überschattet, zuletzt wegen Spenden an seine Partei RPR (die "Wiener Zeitung" berichtete). Alleine deshalb stand der Gipfel in Nizza unter Erfolgsdruck - wiewohl die Tragweite der letztlichen erzielten Ergebnisse auf europäischer Ebene ungleich erheblicher ist.
Das Großereignis an der Côte d´Azur hat zumindest für einige Tage von der französischen Innenpolitik abgelenkt. Das lange ersehnte EU-Treffen hätte für Chirac wohl noch länger dauern können, unkten daher französische Berichterstatter. Demonstrative Eintracht legte Chirac denn auch mit dem sozialistischen Regierungschef, Lionel Jospin, an den Tag. Vorangegangene EU-Treffen waren schon in angespannter Atmosphäre unter den beiden Gastgebern verlaufen.
Chirac und Jospin sind in der derzeitigen "cohabitation" nicht nur politische Gegner. Sie werden einander auch bei den Präsidentschaftswahlen 2002 voraussichtlich als Rivalen gegenüberstehen. Und Chirac setzt alles daran, wiedergewählt zu werden. Die Innenpolitik allzu sehr im Auge, habe der Staatspräsident als EU-Vorsitzender europäische Fragen hingegen vernachlässigt. Vor allem die bis zuletzt umstrittene institutionelle Reform sei von Frankreich ungenügend vorbereitet worden, lautete die verhaltene Kritik aus Delegationskreisen. Zu stark hätten nationale Interessen im Vordergrund gestanden. Chirac sei nicht wirklich an europäischen Fragen interessiert.
Ein Kompromiss ist in Nizza dennoch in letzter Minute zu Stande gekommen.
Die neue "Grande Nation" heißt jedoch Deutschland. Es hat nicht nur um 22 Millionen mehr Einwohner als Frankreich (82 gegenüber 60 Millionen). Ungeachtet des historischen Verhältnisses mit Frankreich - die so genannte deutsch-französische Achse funktionierte ohnehin nur bis François Mitterrand und Helmut Kohl - hat der erste in der Nachkriegszeit geborene Kanzler Gerhard Schröder für sein Land auch erfolgreich verhandelt. Deutschland hat auch ein größeres Interesse an der EU-Osterweiterung als Frankreich.
Chirac muss das französische Verhandlungsergebnis seinen Landsleuten erst verkaufen. Das von den europäischen Politikern beschworene "Haus Europa" muss weitergebaut werden. Ob die Arroganz, die den "abgehobenen" Volksvertretern und in Frankreich vor allem Chirac vorgeworfen wird, je abgestreift wird, bleibt im "Europa der Bürger" abzuwarten.