Es scheint, als sei in den Genossenschaften etwas gewachsen, was theoretisch "zu viel" ist und daher neu verteilt werden darf.
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Immer deutlicher zeichnet es sich ab: Die Europäische Union und damit auch die einzelnen Mitgliedstaaten sollen zu einem großen Markt umgebaut, und der Wettbewerb soll intensiviert werden. Im finanzwirtschaftlichen Bereich spiegelt sich dies in den Plänen zu einer Banken- und Kapitalmarktunion wider. Was wie ein Nebeneinander klingt, könnte doch Kreditinstitute als Teilnehmer in den Kapitalmarkt integrieren beziehungsweise ihre Bankfunktion aufheben. An die Stelle von Banken und Sparkassen treten einzelne digitale und mobile Zahlungsverkehrs-, Vermögensanlage- und Finanzierungslösungen, getragen von neuen Anbietern und Technologien.
Doch Neues muss, wie es bei neuen Medien stets der Fall gewesen ist, nicht das Vorhandene verdrängen oder gar ersetzen. Vielmehr ist es vorstellbar, dass etwas hinzukommt und das schon Bestehende ergänzt.
Welchen Beitrag leisten dabei Genossenschaften? In diesem Vorhaben für Europa scheint mehr auf dem Spiel zu stehen. Die Aufhebung der sozialen Dimension innerhalb des Marktes und der Ersatz von staatlichen Leistungen durch privatwirtschaftliche Lösungen könnten das Ziel sein. Damit käme die Wirklichkeit dem theoretischen Postulat einer "freien" Markt- und Wettbewerbsökonomie näher. Denn eine "soziale" Marktwirtschaft sei keine Marktwirtschaft.
Warum wir eine "freie" Marktwirtschaft brauchen
Aber warum brauchen wir eine "freie" Marktwirtschaft - und warum sollen zu ihr oder zumindest in ihr Alternativen fehlen? Dazu heißt es wiederum in der Theorie, es gäbe kein "free lunch in a perfect market". Und damit gelangen wir zum Titel dieses Beitrages: Es scheint, als sei in den Genossenschaften über die Zeit bis heute etwas gewachsen, was theoretisch "zu viel" ist und daher aufgelöst beziehungsweise neu verteilt werden darf.
Die schon lange bestehenden Genossenschaften haben unter schwierigen Bedingungen begonnen. Die Anfänge von Konsum-, Kredit- oder Wohnungsbaugenossenschaften aber auch Genossenschaften in der Landwirtschaft, für Handel- und Gewerbetreibende reichen zurück in eine Zeit, als viele Menschen bestimmte Angebote gar nicht oder zu weniger guten und günstigen Bedingungen erhalten konnten als andere.
Kreditgenossenschaften, wie die Raiffeisenbanken, eröffneten den in die Freiheit entlassenen Bauern Zugang zu Geld- und Kreditmitteln am Land, ebenso in den Städten die Volksbanken, um zum Beispiel die für die Produktion notwendigen Rohstoffe zu erwerben. Den Markt zweiseitig gedacht - mit Anbietern und Nachfragern -, bestand ein Kräfteungleichgewicht, sodass die Anbieter (von Geld) den Preis (Zins) diktieren und dies mit ihrer Position als Nachfrager verbinden konnten, wenn sie auch die Preise für die von den Bauern eingebrachten Ernten oder das Vieh bestimmten.
Der Zusammenhalt und die gegenseitige Haftung von vielen Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden in Genossenschaften trugen dazu bei, dieses Ungleichgewicht in Bezug auf die über Geld vermittelte Markt- oder auch nur Verhandlungsmacht in einer zweiseitigen Vertragsbeziehung abzubauen. Die Vorteile kamen im weiteren Verlauf auch anderen zugute, indem Waren insgesamt günstiger angeboten wurden.
Keine Theorie sollte ein Selbstzweck sein. Schon gar nicht in Politik übersetzt werden dürfen, wenn es dazu regulatorischer, also hoheitlicher Maßnahmen und Instrumente bedarf, die in eine bestehende Ordnung eingreifen und wiederum Marktungleichgewichte und höhere Marktpreisschwankungen (Volatilitäten) zur Folge haben und Alternativen aufheben.
Dann entstehen privatwirtschaftliche Monopole, wie sie jetzt beim Zugang zu Zahlungsmitteln beziehungsweise bei der Kontrolle über Verfügungsmöglichkeiten darüber bevorstehen könnten. Die vielen Banken und Sparkassen wirken dem noch entgegen.
Das Vermögen der heute bestehenden "alten" Genossenschaften ist über mehrere Generationen gewachsen. Es lässt sich sagen, dass das Soziale durch den Beitrag des Einzelnen als (freiwilliger) Verzicht zugunsten des Ganzen, wie einer Gemeinschaft, auch innerhalb einer Genossenschaft entsteht. Es kann über die Zeit solchen Umfang annehmen und steht individueller Vorteilsnahme so sehr entgegen, dass es Begehrlichkeiten weckt und mit legal(isiert)en Mitteln aufgehoben oder verlagert werden soll.
Neue Perspektiven für bürgerliches Engagement
In dieser Situation befinden sich viele der zum Teil seit mehr als 100 Jahren bestehenden und wirtschaftenden Genossenschaften. Ihnen wird die Fähigkeit, ihre Funktion gerade im lokalen und regionalen Raum auszuüben, aberkannt. Mit jeder Fusion und Umwandlung werden es weniger Institute, die noch erkennbar ihrer genossenschaftlichen oder, bei den Sparkassen, ihrer gemeinwohlorientierten Gründungsidee entsprechen.
Auf der anderen Seite werden neue Perspektiven für Genossenschaften, Gemeinwohlorientierung und bürgerschaftliches Engagement eröffnet. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat durch seine zusätzliche Verschuldung - verstärkt noch durch seine wichtige Hilfeleistung in der Corona-Zeit - in vielen Bereichen finanziell weniger handlungsfähig geworden ist. Demzufolge wirken neue Genossenschaften kompensatorisch, reduzieren aber - nur - ein zuvor zu Lasten des Staatshaushaltes und damit der sozialen Gemeinschaft herbeigeführtes Ungleichgewicht. Zugleich wird mit dem konstruktionsbedingten Verzicht heutiger und künftiger Generationen von Mitgliedern wiederum für die Zukunft ein Vermögen aufgebaut, das dann zur Disposition einer Generation beziehungsweise ihres Genossenschaftsmanagements steht.
Dies ist höchst bedauerlich: Zum einen geht damit im Markt und für die Zukunft eine Institution verloren, deren Angebote dazu beitragen, dass die Preise nicht explodieren, und zum anderen eignet sich eine Generation die über Generationen gewachsene Substanz an.
Genossenschaften müssen auch wirtschaften. Sind ihre Angebote zu teuer oder aus bestimmten anderen Gründen nicht mehr zeitgemäß, dann wenden sich über kurz die Kunden oder lang die Mitglieder als Eigentümer ab.
Das gewachsene Vermögen muss geschützt werden
Doch das über Generationen gewachsene Vermögen bedarf eines Schutzes und einer verantwortungsvollen Verwendung. Denn es vermag einen Teil des Anpassungs- oder Veränderungsdrucks des Markt- und Preismechanismus innerhalb einer Wettbewerbswirtschaft zu reduzieren. Dies ist nicht wettbewerbswidrig, weil der Wettbewerb selbst wiederum nur als eine Vorschreibung für den (global-) gesellschaftlichen Verkehr und Fortschrittsglauben wirkt. Die Fortdauer von Genossenschaften kann einen staatliche Leistungen ergänzenden Beitrag erbringen, zum Beispiel im Hinblick auf den wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Menschen, die in Phasen starker gesellschaftlicher Veränderungen besonders betroffen sind. Auch deshalb bedarf es eines Bewusstseins für die soziale Dimension.
Daher sollten Genossenschaften in einer das Sozialstaatsprinzip anerkennenden Wirtschafts- und Sozialordnung einen weitergehenden Schutz erhalten. Im Gegenzug sollten sie eine gewisse Garantie auf einen maßvollen Wettbewerb bieten, dessen Resultate einen Beitrag zum sozialen Frieden, zu "Wohlstand für alle", leisten.
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