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Manchmal kann das Leben richtig schön sein. Zum Beispiel gestern, Mittwochvormittag: Ich saß noch am Frühstückstisch, obwohl es schon fünf nach zehn war, trank Kaffee und hörte mir in Ö1 die Sendung "Ausgewählt" an. (Als "Horchposten"-Kolumnist kann ich mir diesen Luxus ja von Berufs wegen leisten.) Hans Georg Nicklaus legte CDs auf und stellte reizvolle Vergleiche an. Vor allem war Joseph Haydns "Schöpfung" in unterschiedlichen Interpretationen zu hören: Die musikalische Illustration "dunkler Schatten" schritt in Harnoncourts Deutung sehr viel dunkler einher als in der geschwinderen und leichteren Darbietung Frans Brüggens. Danach konnte man sich überlegen, welche Sängerin die Zeile "Nun beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar" am schönsten darbot: Dorothea Röschmann, Elly Ameling, Edita Gruberova oder Silvia McNair? Nicklaus entschied sich für letztere, und ich war ganz seiner Meinung.
Aber im Grunde geht es bei "Ausgewählt" nicht um die Besten. Hier werden keine Hitparaden lanciert, sondern Unterschiede bewusst gemacht. Und unter der Hand lernt man dabei einiges über das Werk, von dem die Rede ist. So wies Nicklaus auf die Sechzehntelverzierungen hin, die Haydn bei der Zeile " . . . denn er hat Himmel und Erde bekleidet" vom Chor verlangt. Sie waren mir noch nie aufgefallen. Nachdem ich aber von einem kundigen Moderator darauf hingewiesen worden bin, werde ich sie in Zukunft sicher wahrnehmen. Und so war das Frühstücksradio nicht nur schön, sondern auch lehrreich. Was will man mehr?