Über die heutige, innige Großeltern-Enkelkind-Beziehung hätte man sich vor 300 Jahren gewundert, sagt der Historiker Erhard Chvojka - und erklärt, wie sich die Familienverhältnisse gewandelt haben.
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Wiener Zeitung:
Herr Chvojka, Sie haben die Entwicklung der Großelternrolle vom 16. bis ins 20. Jahrhundert untersucht. Wie kommt man zu solch einem Thema?Erhard Chvojka: Indem man in den 1980er, 1990er Jahren am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien studiert. Mein betreuender Professor der Diplomarbeit und der Dissertation war der inzwischen emeritierte Professor Michael Mitterauer. Er ist einer der weltweit führenden Familienhistoriker unserer Zeit und hat angeregt, ich solle mir die Großeltern-Enkelkindbeziehungen in der Geschichte näher ansehen. Dazu gab es kaum Literatur.
Wie sind Sie dabei in Ihrer Forschungsarbeit vorgegangen?
Anhand von Pfarrmatrikeln kann man etwa die historische Haushaltsgröße und -zusammensetzung rekonstruieren. Als Ergänzung und Gegenüberstellung habe ich lebensgeschichtliche Aufzeichnungen und historische Bildquellen herangezogen.
Ist es historisch belegbar, dass das sogenannte "Hotel Mama"-Phänomen, dass erwachsene Kinder relativ spät aus dem Elternhaus ausziehen, hauptsächlich in südlichen Ländern, wie etwa Italien, auftritt?
In Mittel-, Nord- und Westeuropa unterscheiden sich die historischen Familienstrukturen tatsächlich von den Verhältnissen in Süd- und Ost-Europa. Dort ist die Großfamilie historisch belegbar, in der drei bis vier Generationen unter einem Dach lebten und der männliche Vertreter der ältesten Generation das Familienoberhaupt war. Diese Gesellschaften haben sich erst seit dem 20. Jahrhundert in die Richtung des westlichen Modells entwickelt.
Wenn man ein Thema beforscht, ist man ja unbewusst auch damit verwachsen. Wie war das bei Ihnen, haben Sie selbst liebe Großeltern gehabt, oder waren Sie von Generationenkonflikten geprägt?
Sowohl als auch. Einerseits kannte ich noch meinen Großvater mütterlicherseits und die Großmutter väterlicherseits, die beiden anderen Großelternteile waren leider schon verstorben. Andererseits habe ich natürlich auch die Konflikte der Eltern mit den Großeltern miterlebt, so sie aufgetreten sind, aber das habe ich auch bei gleichaltrigen Freunden beobachtet.
Wie ist aus der Sicht eines Historikers erklärbar, dass immer noch so viele Generationenkonflikte entstehen?
Bei uns in Mitteleuropa hat sich die junge Generation, historisch betrachtet, meist vor dem 30. Lebensjahr selbstständig gemacht. Durch diese frühe Selbstständigkeit entstanden Konflikte zwischen den Haushalten der älteren und der jüngeren Generation: um Geld, Macht und Einfluss. Bis vor 150 Jahren waren 95 Prozent der Bevölkerung Bauern und lebten auf dem Land. Bei der Frage, wer erbt wann welche Anteile des Hofes, gab es oft Konflikte. Heute noch wird in Familienbetrieben manchmal darüber gestritten, wann die Jüngeren die Firma übernehmen. Das soll nicht heißen, dass in den Großfamilien in Süd- und Osteuropa keine Konflikte existierten. Aber bei uns begegnen sich zwei Haushalte, die miteinander konkurrieren - und sei es heute um die Enkelkinder. In Nord-, West- und Mitteleuropa gibt es jedenfalls in der Großfamilie keine historischen Vorbilder dafür, wie man so etwas "lebt".
Derzeit gibt es aber Länder, die in einer schweren Krise stecken, wie Griechenland, wo erwachsene Söhne oder Töchter - entgegen ihrem Lebensplan - aus ökonomischen Gründen, weil sie zum Beispiel arbeitslos sind, teils mit ihrer Familie wieder bei den betagten, staatlich versorgten Eltern einziehen. Erlebt die Großfamilie eine Renaissance?
Das ist ein Phänomen, das unter außergewöhnlichen ökonomischen Bedingungen auftritt. Das ging sehr schnell, darauf hat niemand zugesteuert und niemand war vorbereitet. Diese Fälle, die teilweise auch in Spanien und Italien auftreten, entsprechen nicht der Tendenz der letzten Jahrzehnte. Die Frage ist, wie lange in Griechenland die Krise andauert. Wir haben entsprechende Verhältnisse durchaus auch gehabt, etwa in Wien, wo eine akute Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg und nach 1945 herrschte, die durch die Bauinitiative von geförderten Wohnungen (Gemeindewohnungen, Anm.) durch die Stadt Wien rasch beseitigt wurde.
Die kurzfristig existierenden Mehrgenerationenhaushalte in Wien 1918 und 1945 waren eine historische Ausnahme. Auch Griechenland erlebt 2012 kein freiwilliges Revival der Großfamilie. Das Leben in einem großfamiliären Haushalt begeistert dort aktuell niemanden.
Wissenschafter sollten zwar nicht werten, aber dennoch die Frage an Sie: Ist eine Großfamilienstruktur demokratisch?
Familien- und Staatsformen korrelieren teilweise miteinander, aber es gibt keine "demokratischen" oder "undemokratischen" Familienformen. Die süd- und osteuropäische Großfamilie ist ein hierarchisches Konzept. Prinzi- piell ist das auch die historische Kleinfamilie in Mittel-, Nord- und Westeuropa. Man kann etwa von patriarchalischen oder partnerschaftlichen Familienformen sprechen, aber nicht per se von "demokratischen" oder "undemokratischen".
Kann man sagen, je demokratischer eine Gesellschaft denkt, umso weniger Großfamilien bilden sich?
Historisch betrachtet, gibt es einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsformen und Haushaltsstrukturen, aber man kann keine zwingende Kausalkette herstellen. Man kann nicht sagen, je weniger modern Länder sind, desto weniger "demokratisch" sind ihre Familienformen. Da müsste man fragen: Welche Demokratie ist gemeint? In Süd- und Osteuropa herrschen andere ideelle Vorstellungen, die Blutsverwandtschaft hat einen hohen Stellenwert. Ein Rückgang der Großfamilienhaushalte hängt eher mit neuen Erwerbsformen und der Steigerung der Individualität zusammen: Es gibt heute immer mehr Single-Haushalte und mehr Patchwork-Familien - die wir übrigens von den Haushalten des 18. und 19. Jahrhunderts auch kennen, aber sie hatten damals andere Gründe: Die Menschen hatten eine relativ kurze Lebenserwartung. Bis vor rund 120 Jahren dauerte wegen des Todes eines Ehepartners eine Partnerschaft in Europa durchschnittlich nur zehn bis 15 Jahre, danach kam es in der Regel zur Wiederverheiratung des verwitweten Partners. In den Märchensammlungen der Brüder Grimm taucht zum Beispiel oft das schwierige Verhältnis der "bösen" Stiefmutter zur Stieftochter auf. Heute werden die Familienverhältnisse hingegen frei gewählt, mit allen Vor- und Nachteilen, die sie manchmal für die Kinder bringen.
Sind die "lieben Großeltern" eine Rolle, die die Gesellschaft älteren Menschen aufzwingt, oder ist das in einem drinnen? Es sind ja auch nicht alle Pensionisten Großeltern.
Auf die Frage, ob etwas "in einem - biologisch - drinnen" ist, werden Sie von einem Sozial- und Kulturhistoriker immer die definitive Antwort "nein" bekommen. Vor 300 Jahren hätte man sich gewundert über die heutige, innige Großeltern-Enkelkind-Beziehung und auch über die enge, emotionale Partnerbeziehung. Das ist nicht in uns drinnen. Das sind historisch gewachsene, kulturelle Normen, die von den Menschen selbst gestaltet werden. Und man kann diese Normen annehmen oder ablehnen bzw. weiterentwickeln.
Die demographische Kurve geht immer noch nach oben. Im Gegensatz zu den 70er Jahren sind Pensionisten jetzt fast genauso lange in Pension, wie sie gearbeitet haben, durch das Umlagesystem auf Kosten der nachfolgenden Generationen. Gleichzeitig erleiden viele zu Pensionsantritt einen "Schock". Sollten Ältere stärker gesellschaftspolitisch in die Pflicht genommen werden, bzw. sollte es nicht viel mehr Altersteilzeitmodelle geben?
Viele ältere Menschen leisten Freiwilligenarbeit wie zum Beispiel Ute Bock in der Flüchtlingsbetreuung - und Ute Bocks gibt’s viele! Die älteren Menschen sind starke Leistungsträger, innerhalb der Familie, aber auch in vielen anderen Bereichen, teilweise als Ehrenamtliche oder auch noch als finanziell Erwerbstätige. Das Bild vom nur im Lehnstuhl sitzenden Opa existierte vielleicht früher. Die, die sehr aktiv sind, sind heute die Mehrheit. Die 70- oder 75-Jährigen, die nichts tun außer Fernsehen, sind definitiv in der Minderheit.
Heike Hausensteiner war Politik-Redakteurin der "Wiener Zeitung" (1996-2005), danach u.a. Autorin der Eurobarometer-Berichte für Österreich, Chefredakteurin des Monatsmagazins "european - was uns verbindet" und schreibt jetzt für österreichische und deutsche Medien.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Erhard Chvojka, Jahrgang 1965, ist Historiker und erforschte als einer der ersten Wissenschafter gründlich die Rolle der Großeltern in der Familienstruktur vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.
Das Studium der Geschichte absolvierte Chvojka in Wien und München, danach forschte er u. a. in Cambridge (England) sowie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken.
Erhard Chvojka war Mitarbeiter am Wien Museum und pädagogischer Assistent an der Wiener Urania. Seit 2003 ist er als deren Direktor tätig.
Erhard Chvojka: Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Böhlau Verlag Wien 2003, 378 Seiten, 45,- Euro.