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Erheblich verschätzt

Von Roland Knauer

Wissen

Unter dem Meeresboden leben weniger Mikroorganismen als gedacht.


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"Das Gewicht aller Lebewesen auf der Erde ist deutlich geringer als bisher angenommen", berichtet Jens Kallmeyer vom Deutschen Geoforschungszentrum und der Universität Potsdam in den "Proceedings of the National Academy of Sciences". In anderen Worten: Es gibt weniger Biomasse als bisher geschätzt wurde.

Bisher wurden küstennahe Gewässer auf ihre Organismen untersucht, sie wimmeln von Leben. Weite Teile des Meeresbodens tun es nicht.
© © © Image Source/Corbis

Zwischen den Gipfeln des Himalaya und dem Boden unter den Weltmeeren vermuten der Geomikrobiologe und seine US-Kollegen von der University of Rhode Island um rund ein Drittel weniger Leben als bisher angenommen. Statt 1000 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in allen Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sollten es nur rund 700 Milliarden Tonnen sein.

Der Grund für diese Korrektur liegt in den Tiefen der Weltmeere. Über das Leben im Boden unter den Ozeanen war bisher wenig bekannt. Da aber zwei Drittel der Erdoberfläche von den Meeren bedeckt sind, und ein erheblicher Teil der dortigen Lebewesen nicht nur im Wasser schwimmen, sondern auch im Untergrund stecken, verändern selbst kleine Ungenauigkeiten die Gesamtbilanz. Bisher wurden vor allem küstennahe Gewässer sowie einige Gebiete untersucht, in denen Wasser vom Meeresgrund aufsteigt und Nährstoffe nach oben trägt. Diese Gebiete wimmeln vor Leben. Nach ihrem Tod sinken die Organismen nach unten. Jener Teil davon, der den Grund erreicht, wird dort nach und nach unter dem von oben nachrieselnden, organischen Material begraben. Das herabgefallene Material dient den Mikroorganismen als Futter. Schwimmt im Wasser viel Leben, liefert es reichlich Nachschub für den Untergrund.

Unterwasser-Wüsten

Aus solch reichhaltigen Gebieten stammten bisherige Daten über Mikroorganismen im Meeresboden. Die Werte wurden auf den viel größeren Rest der Weltmeere hochgerechnet zur Ermittlung der Biomasse unter den Meeren. Da weite Teile der Ozeane allerdings einer Unterwasser-Wüste gleichen, war die Schätzung ungenau. "Das ist, als würde man die Biomasse auf dem festen Land nur aus Daten von vor Menschen wimmelnden Großstädten und vor Organismen überquellenden tropischen Regenwäldern berechnen, während man Wüsten wie die Sahara oder Gebirge wie den Himalaya ignoriert, weil von dort die Daten fehlen", so Kallmeyer.

Weshalb es aus den Wüsten der Meere kaum Daten über das Leben in den tieferen Gebieten des Bodens gibt, erklärt der Geomikrobiologe so: "Um Proben aus diesen Bereichen zu holen, brauchen wir ein spezielles Bohrschiff, das rund eineinhalb Millionen US-Dollar in der Woche kostet". Die knappen Forschungsgelder konzentrieren sich daher auf für die Fischerei interessante Regionen mit vielen Nährstoffen.

Je weiter ein Gebiet von der nächsten Küste entfernt ist, umso weniger Nährstoffe werden vom Land dorthin geschwemmt oder durch den Wind angeweht. Fehlen dann noch aufsteigende Meeresströmungen, entsteht eine Wüste im Meer. Als die Forscher diese Regionen untersuchten, fanden sie im Ozeanboden tatsächlich extrem wenige Mikroorganismen. Zudem wächst der Meeresboden mangels herab rieselnden Materials bis zu 1000 Mal langsamer als in anderen Gebieten. Daher ist das Sediment in den Wüsten viel dünner und kann nur wenige Organismen ernähren. In nährstoffreichen Gebieten steckt im Untergrund hingegen bis zu 100.000 Mal mehr Biomasse.

Da die Unterwasser-Wüsten mindestens die Hälfte der Weltmeere umfassen, beeinflussen sie die gesamte Biomasse im Meeresgrund erheblich. Als Kallmeyer und seine Kollegen nachrechneten, kamen sie nur noch auf rund 4,1 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in den Mikroben unter den Ozeanen. Zuvor waren die Schätzungen mit 303 Milliarden Tonnen dramatisch höher gelegen: Das wäre fast ein Drittel der gesamten Biomasse gewesen - Kallmeyers Berechnungen zufolge fallen hingegen höchstens 0,6 Prozent allen Lebens in den Meeresgrund. Damit sinkt auch das Gesamtgewicht des Lebens auf der Erde um fast ein Drittel.

Wenn Wissenschafter die gesamte Masse aller Lebewesen auf der Erde schätzen, kämpfen sie mit Unsicherheitsfaktoren wie etwa dem Wassergehalt. Eine Qualle enthält viel mehr Wasser als ein Kaktus am Ende einer Trockenperiode. Zudem kann der Wassergehalt im gleichen Organismus sogar im Laufe der Zeit schwanken: Hat es lange Zeit nicht geregnet, ist Moos trocken, somit leichter. Forscher richten sich daher nach dem Gewicht des Kohlenstoffs, der das wichtigste Element und die Grundlage allen Lebens ist. Im Menschen bringt Kohlenstoff 10,7 Prozent des Körpergewichtes auf die Waage.