)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Seit Anfang Jänner 2013 ist Thomas Mally abgängig. Er war unser Schulgenie.
Schon bald nachdem er maturiert hatte, erzählte man sich Wunderdinge über seine Kenntnisse und Fähigkeiten: Er beherrschte angeblich 12 Sprachen - oder waren es 40? Er gab Nachhilfe in Darstellender Geometrie ebenso wie in Deutsch, Mathematik, Latein oder Englisch - und das mit größtem Erfolg.
Dabei blieb er bescheiden, humorvoll und unprätentiös.
Thomas interessierte sich auch für Folksongs. Er besaß eine große einschlägige Plattensammlung, von Theodore Bikel bis zu den Clancy Brothers, und da durfte ich mir LPs auf mein Tonbandgerät überspielen. Dadurch kamen wir gelegentlich zusammen und diskutierten Dinge wie die Schönheit der Trixi Neundlinger von den "Milestones" - oder ob es im Lied "The Foggy Dew" über den Osteraufstand 1916 "Britannia's sons" oder gar "Britannia's Huns" heiße. Thomas wohnte gleich ums Eck von mir, sehr bescheiden, bei seiner verwitweten oder geschiedenen Mutter. Das war am Neubaugürtel, in einer Zimmer-Küche-Kabinettwohnung. Sie nannte ihn Tommerle, was mich leicht frösteln machte, und meine Mutter wunderte sich, die beiden Hand in Hand am Urban Loritzplatz gesehen zu haben
Thomas war vier Jahre älter als wir, aber er kam im Sommer 1965, vermittelt durch unseren Klassenvorstand Inge Menkes, mit auf unsere Maturareise nach Russland. Da war er schon Russischkenner und zugleich im Dissertationsstadium, beim Altgermanisten Otto Höfler, von dem es später hieß, er habe für die SS Mythenforschung gepflegt Höfler war offenbar ein unangenehmer Patron, der immer wieder die Einarbeitung weiterer Literatur forderte - und das hieß damals, im Vor-Computerzeitalter, dass große Teile einer Reinschrift mehrfach unbrauchbar wurden.
Wieviel von dieser Dissertation wirklich existierte und ob es nicht vielleicht Spannungen mit Höfler gab, die anderen Quellen entsprungen waren, weiß ich nicht. Tatsache ist, dass ich zunehmend Sorge um Thomas empfand. 1969 hatte ich mein - eher ungeliebtes - Jusstudium im Eiltempo hinter mich gebracht und mich erfolgreich um ein Fulbright-Stipendium beworben. Thomas, seine Mutter nannte ihn immer noch Tommerle, gab weiter Nachhilfestunden. Er war mittlerweile 26 und hatte von Altgermanistik auf Spanischdolmetsch umgesattelt. Der entsprechende Studienzweig wurde damals von einem Lektor beherrscht, der auch nicht ganz das "Gelbe vom Ei" war. Dieser ließ seine Skripten von studentischen Gefolgsleuten um einen Schilling pro Seite verkaufen und hielt während der Vorlesungen Vokabelprüfungen ab. Seine Sicht der neueren spanischen Geschichte war, wie ich mich selbst überzeugen konnte, durch eine gewisse Fixierung auf die hintergründige Rolle des Freimaurertums gekennzeichnet. Vorwürfe weiblicher Studenten gegen ihn wurden später Gegenstand eines Gerichtsverfahrens.
Aber das gehört nicht hierher.
Ich weiß allerdings, dass ich mich nach meiner Rückkehr aus den USA irgendwann dazu aufraffte, Thomas beschwörend zu bitten, doch IRGENDEIN Studium abzuschließen und aus dem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter auszuziehen: "Ich weiß, Du kannst alles, ich bewundere Dich grenzenlos - aber bitte, bitte, befreie Dich und verzettle Dich nicht!" Das war wohl um 1972.
Aber die Jahre und Jahrzehnte vergingen und am Neubaugürtel schien die Zeit still zu stehen. Wir anderen heirateten, bekamen Kinder, ließen uns scheiden, versuchten Karriere zu machen - Thomas wohnte weiter bei seiner Mutter, gab Nachhilfestunden, betrieb seine Sprachstudien, und interessierte sich nun auch für Schachcomputer. Das Dolmetschstudium hatte er längst aufgegeben - er war mit dem Lektor wegen der korrekten Übersetzung eines spanischen Verbs in Streit geraten. In solchen Grundsatzfragen war er gar nicht schüchtern. Aber er saß am kürzeren Ast.
Seine Mutter starb mit 90. Da war der "Tommerle" Mitte fünfzig.
Um die Jahrtausendwende hatte ich ein Problem. Ich hatte mit zwei Freunden ein Buch über "Wiener Stadtbildverluste" verfasst. Der Atelier-Verlag war begeistert, sah sich aber außerstande, das komplizierte Layout mit den zahlreichen Bild-Textbezügen zu machen. Die vom Verlag konsultierte Firma konnte sehr wohl, gab aber zu bedenken: Das wird viel zu teuer. In meiner Verzweiflung fragte ich Thomas. Der konnte und wollte. In der Folge bemühte ich mich, Thomas bei meinen Publikationen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Seine Mitwirkung war stets konstruktiv, und im Buch "Wiener Spurensuche" war sie dominierend.
Im Kunst- und Musiksalon von Tatjana Smirnova in der Prinz-Eugenstraße feierte Thomas seine letzten Triumphe - als feinfühliger Übersetzer russischer Lyrik. Aber nun gab es Anlass zu ernsthafter gesundheitlicher Sorge. Er wirkte immer wieder räumlich desorientiert, kam wohl auch mit dem Computer nicht mehr so gut zurecht. Und die Nachhilfeschüler wurden immer weniger. Nachdem ich eine gute Weile nichts von ihm gehört hatte, suchte ich Thomas in seiner winzigen neuen Wohnung in der Hütteldorfer Straße auf. Er stand mir völlig verwirrt gegenüber - wie sich zeigte, die Folge langjähriger, unbehandelter Zuckerkrankheit. Thomas hatte ohne Sozialversicherung dahin gelebt und damit auch ohne ärztliche Versorgung. Tatjana Smirnova und ihr Kreis, insbesondere Dr. Helmut Hubeny, kümmerten sich in der Folge rührend um Thomas. Er bekam einen Platz im Pensionistenheim Hoffmannpark in Purkersdorf. Eine größere Beinamputation konnte vermieden werden.
Mit dem Computer kam er allerdings nicht mehr zurecht. Und bei seinen weiten Wanderungen verirrte er sich zuweilen.
Vor Weihnachten 2012 habe ich ihn noch im Heim besucht. Da hat er mir Adalbert Stifters Erzählung "Bergkristall" gezeigt, die Geschichte zweier Kinder, die sich zur Weihnachtszeit im Schneegebirge verirren aber auf wunderbare Weise gerettet werden. Ich hatte dieses Prosastück vor mehr als einem halben Jahrhundert zuletzt in Händen gehabt. Heute frage ich mich, ob Thomas mir auf diese Art etwas sagen wollte.
Den 7. Jänner 2013 hat er auf seinem Zimmerkalender im Heim unterstrichen. Seit diesem Tag ist er verschwunden. Damals gab es viel Schnee in Wien, und ich muss oft denken: der Lainzer Tiergarten liegt nicht weit vom Heim. Bislang blieben alle Suchaktionen vergeblich.
Am 3. Juli 2013 gäbe es Tommys 70. Geburtstag zu feiern.
Es wäre schön wenn er dabei sein könnte.