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Erinnerungen sind unbestechlich

Von Simon Rosner

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Von der Euro 2008 sind nur ein paar Bilder geblieben, was bleibt von 2012? Bestimmt die Eindrücke von 20.000 singenden Iren.


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Ich habe eine ärgerliche Entdeckung im eigenen Gedächtnis gemacht. Das Finale der Euro 2008 ist weg. Irgendwann in den vergangenen Jahren muss es verloren gegangen sein. Ich weiß, dass ich im Stadion gesessen bin, als die Spanier Deutschland mit 1:0 bezwangen, doch in meinem Gedächtnis gibt es dazu keine Bilder mehr. Ich werde sicher auch das Tor von Fernando Torres gesehen haben. Aber auch das ist weg, beziehungsweise sind es die Fernsehbilder, die in meiner Erinnerung sind, sie wurden seither auch dutzendfach wiederholt. Offenbar haben die Fernsehbilder das Live-Erlebnis überspielt.

Erinnerungen sind unkontrollierbar, unberechenbar und bisweilen unlogisch. Warum ist das Euro-Finale weg, aber dafür das Elferschießen zwischen Italien und Spanien im Viertelfinale nach wie vor präsent? Daniele De Rossi schießt links halbhoch, Iker Casillas pariert, und De Rossi klappt am Elferpunkt wie ein Taschenfeitel zusammen. Das weiß ich noch genau.

Die Euro 2008 war ein doch recht prägendes Erlebnis für einen Sportjournalisten. Und doch bleiben am Ende nur ein paar Bilder, ein paar Eindrücke zurück. Irgendwelche. Etwa der surreale Moment, als die Mannschaften von Österreich und Kroatien im Eröffnungsspiel aufs Feld schritten, nach zwei Jahren Vorbereitungszeit auf dieses Spiel, nach Wochen der intensiven Präparation, gepaart mit ebenso intensiver Berichterstattung. Auf einmal war dieses Spiel, das zwei Jahre nur in der Vorstellung existierte, Realität. Doch als Rene Aufhauser nach drei Minuten einen Elfer verschuldete, schien es für einen kurzen Moment, als sei das Spiel doch wieder nur eine Fantasie und eigentlich irreal.

Tore mögen die Essenz im Fußball sein, aber es sind die sie auslösenden Emotionen, die sich in die Erinnerung einbrennen. Teilweise landen große Momente sogar im kollektiven Gedächtnis, werden ständig reproduziert und tragen sich über Generationen weiter. Vermutlich wird es Fußballfans geben, die Córdoba, Gijón, Toni Polsters Tore gegen die DDR und Andi Herzogs Traumschuss gegen Schweden nicht erlebt haben, aber diese Momente dennoch irgendwie spüren können.

In England hat sich eine Szene der WM 1990 in die kollektive Erinnerung des Landes eingeschrieben. Die Tränen von Paul Gascoigne. Er hatte im Halbfinale gegen Deutschland eine zweite gelbe Karte gesehen und wäre deshalb im Finale gesperrt gewesen. Das wurde ihm sofort bewusst, dann verlor Gascoigne die Fassung und weinte.

Natürlich stellt sich auch bei dieser EM die Frage, was von ihr am Ende bleiben wird, was jeder Zuschauer in seiner Erinnerung parken wird. Die polnischen Fans werden an diesen Moment denken, als Jakub Blaszczykowskis Schuss im Spiel gegen Russland im Kreuzeck landete. Doch was bleibt mir? Während eines Turniers lässt sich das kaum sagen, zu unberechenbar ist das Hirn. Doch das Spiel Spaniens gegen Irland in Danzig wird sicher darunter sein. Vielleicht nicht die Tore, auch wenn wirklich schöne darunter waren. Sicher aber werden mir die letzten Minuten der Partie erinnerlich sein.

Spanien führte mit 4:0 und Irland war damit ausgeschieden. Die irischen Fans aber standen auf und sangen. Sie sangen ein Lied über die irische Hungersnot ("The Fields of Athenry"), das sie erstmals bei der WM 1990 gesungen haben und seither immer wieder anstimmen. Das Spiel war schon lange vorbei, das Team in der Kabine. Doch die bestimmt 20.000 irischen Fans sangen immer noch und immer lauter. So etwas vergisst man nicht. So etwas will man nicht vergessen.