)
Diplomatische Beziehungen vereinbart. | Parlamente müssen erst zustimmen. | Lasten aus der Vergangenheit. | Eriwan. Das Klappern der Stöckelschuhe ist im Zentrum Eriwans überall zu hören. Sie sind hoch und dünn wie Bleistifte, die Absätze vieler Frauen. Ihr Klang vermischt sich mit dem Lärm der Baumaschinen. Auf der autofreien Nord-Avenue, die zur Oper und den vielen Restaurants und Kaffeehäusern rundherum führt, ist der Geruch des Betonstaubs noch zu spüren. Die neu errichteten Gebäude, riesige Klötze mit protzigen Eingängen, sind teilweise noch nicht bezogen. In der Nacht starren sie mit schwarzen Fenstern auf die Straße und die Vorbeischlendernden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es wird viel gebaut in Eriwan, und von den alten Bürger- und Zinshäusern sind nur noch wenige übrig. Breite Boulevards durchziehen das Zentrum, schicke Bars reihen sich an Boutiquen mit westlichen Nobelmarken, und neben klapprigen Ladas sind auf den Straßen die neuesten BMW-Modelle zu sehen.
Die Hauptstadt Armeniens, das 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, will eine moderne Metropole werden. Hierher ziehen die Menschen aus den Dörfern auf der Suche nach Arbeit, hierher fließt das meiste Geld für Investitionen.
Im Zeitraum von 1994 bis 2008 wuchs die armenische Wirtschaft stetig, das Bruttoinlandsprodukt war teilweise zweistellig. Noch im Vorjahr zog die Wirtschaft um 6,8 Prozent an. Das bekommen jedoch nicht alle der rund drei Millionen Einwohner des Kaukasuslandes zu spüren. Das Durchschnittsgehalt überschreitet kaum 200 Euro; die Miete für eine Wohnung macht nicht viel weniger aus. Für die Arbeitslosenzahlen gibt es nur Schätzungen - zwischen sieben und 24 Prozent. Der Anteil der Schattenwirtschaft ist hoch.
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Mit zwei von vier Nachbarn kann das Land nur unter schwierigen Bedingungen Handelsbeziehungen aufnehmen. Denn die Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan sind geschlossen. Es gibt zwar ein paar Direktflüge zwischen Eriwan und Istanbul, doch die meisten Transportwege führen über Georgien oder den Iran, über einen Umweg von mehreren hundert Kilometern.
Dies könnte sich allerdings bald ändern. Die Türkei und Armenien wollen diplomatische Beziehungen aufnehmen - wenn die Parlamente beider Länder den entsprechenden Protokollen zustimmen. Diese wurden am Wochenende von den Außenministern beider Länder unterzeichnet. Neben einem Zeitplan für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen sehen sie vor, die Grenzen zu öffnen und eine Expertenkommission mit dem Massaker an Armeniern im Ersten Weltkrieg zu befassen.
In Armenien sehen viele Experten das größere Hindernis bei der Türkei. "Das Parlament in Eriwan wird die Protokolle wohl annehmen", meint der Analyst Tigran Mkrtchyan vom Thinktank European Stability Initiative. "In der Türkei aber könnte nicht nur die Opposition Einwände haben. Auch innerhalb der Regierungspartei AKP gibt es Kritiker der Annäherung zwischen den beiden Staaten." So haben Nationalisten bereits vor Landesverrat gewarnt - und das auf beiden Seiten.
Großmächte für die Grenzöffnung
Das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei war nie ein entspanntes. Allzu sehr belasteten es der Konflikt um Berg Karabach und die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern im Jahr 1915 (siehe Kasten) . Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat noch nach der Protokollunterzeichnung bekräftigt, die Grenzöffnung hänge am Abzug der Truppen des Nachbarlandes aus Berg-Karabach. Auch andere Länder sind mit im Spiel. So trachtet Russland danach, seinen Einfluss in Armenien nicht zu verlieren. Auf der anderen Seite gibt es Verbindungen zwischen der Türkei und den USA, die Nato-Partner sind.
Doch die Großmächte unterstützen im Moment eine Grenzöffnung, erläutert Stepan Grigoryan vom Analytischen Zentrum für Globalisierung und regionale Zusammenarbeit. Dabei gehe es nicht zuletzt um Energiepolitik, um Transportwege für Erdöl aus dem Kaukasus. Der Krieg in Georgien - über das Armenien rund 80 Prozent seiner Aus- und Einfuhren abwickelt - im Sommer des Vorjahres habe gezeigt, wie wichtig Stabilität in der Region wäre.
Auch Richard Giragosian ortet einen günstigen Zeitpunkt für eine Annäherung. "Zum ersten Mal sind die Türkei und Armenien gleichzeitig an einer Lösung interessiert", sagt der Leiter des Armenischen Zentrums für nationale und internationale Studien. "Die Grenzen sind bereits geöffnet - in den Köpfen."
Austausch kontra Schwarz-Weiß-Malerei
Dazu hat nicht zuletzt die Zivilgesellschaft beigetragen, Vereine und Gruppen in beiden Ländern, die schlicht darauf setzen, dass Menschen zusammenkommen. Die Stiftung für Eurasische Partnerschaft etwa organisiert Austauschprogramme, Filmvorführungen oder auch einmal ein Konzert einer türkischen Musikgruppe in Eriwan. "Für viele Armenier waren Türken einfach nur Feinde. Dabei haben sie noch nie einen Türken gesehen", erzählt Projektleiter Artak Shakaryan. Die Atmosphäre habe sich mittlerweile aber geändert; viele Leute führen nun auf Urlaub in die Türkei oder auch um Geschäfte zu machen. Das Problem bleibe jedoch die Schwarz-Weiß-Malerei auf beiden Seiten. Die Medien seien einseitig, die Schulbildung ebenfalls: Wir sind die Opfer, die anderen die Täter - jeweils auf das eigene Land gemünzt.
Mythischer Berg Ararat steht beim Nachbarn
Auf dem Weg von Shakaryans Büro ins Zentrum Eriwans ist in der Ferne ein Berg mit schneebedecktem Gipfel zu sehen. Er ist in Armenien allgegenwärtig; sein Bild prangt auf Plakaten und Firmenlogos, sogar auf den Stempeln, die Einreisenden in den Pass gedrückt werden. Es ist der Berg Ararat, wo einst die Arche Noah gelandet sein soll. Für die Armenier, die als erstes Volk das Christentum als Staatsreligion eingeführt haben, ist es ein heiliger Ort, das verheißene Land, die einstige Heimat.
Doch er liegt jenseits der Grenze, in der Türkei. In etlichen Dörfern rundherum finden sich armenische Kirchen, viele von ihnen völlig verfallen. Ebenso wie sie zeugten noch vor hundert Jahren tausende von Schulen und Häusern von einer alten Kultur, für die dann kein Platz mehr war.
Die Erinnerung an die Vertreibungen und an ihre Toten von 1915 ist in den meisten Armeniern tief verwurzelt, für die Diaspora vielleicht sogar wichtiger zur Identitätsstiftung als für jene Armenier, die in ihrem eigenen Staat leben. Die Geschichten über Morde, Hunger und Verluste erzählen Eltern ihren Kindern, Großeltern ihren Enkeln. Für die armenische Diaspora war das Jahr 1915 das Ende ihrer Welt, wie es der Orientalist David Hovhannisyan formuliert. Die Menschen hätten nicht nur ihr Land verloren, ihre Kirchen und Friedhöfe, sondern auch ihre private Geschichte, persönliches Hab und Gut. Lediglich ihre Erinnerungen halfen ihnen, ihre Identität als Armenier zu bewahren.
Dass auch andere Länder die Ereignisse nicht vergessen, dafür sorgen unterschiedliche Lobbying-Gruppen. Sie versuchen die Parlamente verschiedener Staaten dazu zu bewegen, die Massaker von 1915 als Völkermord anzuerkennen - wie es unter anderem in Frankreich geschehen ist, wo es eine starke armenische Diaspora und damit etliche potenzielle Wähler gibt. In den USA flammt die Debatte dazu regelmäßig auf.
Fußball-Diplomatie: Treffen beim Rückspiel
Arpi Vartanian ist Leiterin des Eriwaner Büros der Armenischen Vereinigung Amerikas (AAA). "Der Völkermord muss anerkannt werden", stellt sie klar. "Er ist eine historische Tatsache, keine Annahme, keine Theorie, keine Idee." Solange die Türkei dies nicht anerkenne, könne es keine echte Aussöhnung geben. Dennoch ist AAA eine der Gruppen, die die politische Annäherung unterstützen. "Es war nicht einfach, in diesem Prozess zu dem Punkt zu gelangen, an dem wir jetzt sind", sagt Vartanian. "Aber wir haben noch viel zu tun." Erst wenn die Menschen über ihre Geschichte lernen und reden, könnten sie sich weiterbewegen.
Die junge Generation sei dazu bereit, glaubt die Orientalistik-Studentin Lilit Hakobyan. Dennoch gibt auch sie zu verstehen, wie tief das Misstrauen auf beiden Seiten ist, vor allem wenn es um die Politik geht. "Wir trauen den Türken nicht", gibt sie zu. "Ich will, dass die Annäherung weitergeht, doch ich kann nur hoffen, dass die Türken Wort halten."
Die nächste Begegnung jedoch findet nicht am Verhandlungstisch statt, sondern auf dem Rasen. Bereits im Vorjahr hatte Präsident Abdullah Gül das WM-Qualifikationsspiel zwischen Armenien und der Türkei genutzt, um als erster türkischer Staatschef nach Armenien zu reisen und so das Eis zu brechen. Am Mittwoch folgt in Bursa der zweite Teil der Fußball-Diplomatie. Der armenische Präsident Serzh Sarkisyan folgt der Gegeneinladung von Gül zum Rückspiel. Die geschlossene Grenze soll kein Hindernis sein.
Wissen: Die Konfliktpunkte
(czar) Seitdem Armenien 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hat, haben sich die Beziehungen zum westlichen Nachbarland Türkei nicht normalisiert. 1993 marschierten armenische Truppen in Nagorny-Karabach ein - wo viele Armenier leben - und brachten fast ein Fünftel von Aserbaidschan unter ihre Kontrolle. In den Kämpfen starben zehntausende Menschen. Aus Solidarität mit den Aserbaidschanern, die sie als Brudervolk ansieht, schloss die Türkei ihre Grenzen zu Armenien. Der Konflikt um Berg Karabach ist bis heute ungelöst.
Für zusätzliche Spannungen sorgt Armeniens Forderung an die Türkei nach Anerkennung des Völkermords von 1915. Im Zuge des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs wurden Millionen Menschen aus weiten Gebieten der heutigen Osttürkei vertrieben. Dabei kamen nach vielen Angaben bis zu 1,5 Millionen Armenier um. Die offizielle Türkei spricht nicht von Völkermord, sondern Folgen von Kriegshandlungen.