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Auch von oben, vom Viertel um den Parque Principe Real, ist der Anblick enorm. Wer auf den Fluss schaut, blickt auf die Splendour of the Seas: Ein Kreuzfahrtschiff, rund 264 Meter lang, also in etwa so lang wie die "Titanic" oder die "Costa Concordia". Auf den Bahamas registriert, dümpelt sie im ersten Licht des Tages im Tejo und wird beladen. Eine ausgetüftelte Maschinerie, ein vielarmiger Mechanismus der Serviceindustrie liegt dort, in einem Eisenkleid von solchen Ausmaßen verborgen, dass der Reporter vor Schreck sofort auf einen Espresso die kleinste Confiteria in Reichweite aufsucht. Jeder Schritt weiter hinab lässt das Schiff wachsen und zum Gegenbild der Stadt werden: Lissabon, ein wenig unterschätzt, pleite und fatalistisch, ruht wie gemalt unter der milden Wintersonne.
Die Splendour, im März 1996 in den Dienst der US-amerikanischen Reederei Royal Caribbean gestellt, ist trotz der 30 Tage Trockendock, die sie gerade hinter sich gebracht hat, etwas angegilbt. Das Plastikgeschirr am Büffet ist zerkratzt, die Kabinenmöbel angestoßen, die blechernen Deckenpanelen auf Deck 7, Zimmer 026 haben deutliche Knicke. Davon abgesehen ist es ein auf Fröhlichkeit und Rundumversorgung getrimmter Ort - eine Art USA auf Reisen.
Wachstumsmarkt
Kreuzfahrten liegen im Trend und haben enormen Zulauf. Nach Angaben der "Cruise Lines International Association", dem weltweit größten Verband der Kreuzfahrtunternehmer, waren für das Jahr 2011 rund 16 Millionen Gäste an Bord vorgesehen, Reiseveranstalter vermeldeten schon zum Halbjahr Wachstumszahlen von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die deutsche TUI Cruises notierte gar einen Zuwachs von über einem Drittel. Nach der Havarie der "Costa Concordia" verlieren die Kreuzfahrtschiffe zwar kurzfristig an Publikum, aber die Branche rechnet damit, dass mit dem sanften Vergessen die Buchungen wieder zunehmen.
Nach Branchenangaben sind die Zeiten, in denen Kreuzfahrten einem betuchten, meist älteren Publikum vorbehalten waren, zu Ende. Moderne Kreuzfahrtschiffe mit Spa-Behandlungen, Animateur-Wettbewerben oder Themenreisen für Homosexuelle stechen mit einer Klientel in See, die mit der "Traumschiff"-Herrlichkeit wenig gemein hat.
Von fast derselben Stelle machte sich im Frühjahr 1500 eine ähnlich große Reisegesellschaft auf den Weg. 13 Schiffen gab Pedro Álvares Cabral am 9. März das Zeichen zum Aufbruch; je nach Quelle waren entweder 1200 oder 1500 Mann - unter ihnen Weggefährten Vasco da Gamas - auf Oberdecks und in Wanten verteilt.
Wie es früher war
Cabral stand auf dem Kapitänsdeck einer Nau, einer Schiffsgattung aus dem 15. Jahrhundert, die das größte und erfolgreichste Expeditionsschiff des folgenden Jahrhunderts werden sollte: Die fast 40 Meter langen Schiffe bargen bis zu 500 Tonnen Gewicht; Columbus reiste auf der Nau Santa María nach Amerika; da Gama umschiffte mit der knapp 26 Meter langen Saõ Gabriel Afrika. Sie brachten die Entdecker des 16. Jahrhunderts nach Amerika und durch den Pazifik.
Am Ufer des Tejo wimmelte es von Zuschauern, am Tag zuvor hatte König Emanuel I. Besatzung und Kapitän nach der Messe zu den Schiffen begleitet. Ihr Ziel war, als zweite Expedition Indien zu erreichen, wirtschaftlich und diplomatisch das portugiesische Weltreich zu festigen. Vermutlich hatte Emanuels Vorgänger, König Johann II., eine vage Ahnung von der Küstenlinie Brasiliens, weshalb er dafür sorgte, die vertragliche Grenze zwischen spanischem und portugiesischem Einfluss so zu vereinbaren, dass Brasilien an Portugal fallen würde.
Für Cabral war die Kolonisierung Brasiliens eine Zwischenetappe auf dem Weg nach Ostafrika, Indien und Malaysia. Handelsabkommen sollte er aushandeln, es ging um Ruhm und Reichtum für Krone und Kapitän: Für die Reise wurde er in Gold bezahlt und durfte Gewürze zollfrei nach Lisabon einführen - sie sollte der Beginn eines Lebenswerks werden, an dessen Ende er als jener Kapitän dastand, "der vier Kontinente berührte", wie Bailey W. Diffie und George D. Winius in ihrem Standardwerk "Foundations of the Portuguese Empire 1415-1580" schreiben.
Vergnügungsapparat
Heute gerät der Abschied von Lissabon ungleich schlichter: Am Hafen wimmelt es von Reisebussen, Familien bugsieren hoch beladene Gepäckwagen über Bordsteinkanten, eine opulente Frau fortgeschrittenen Alters trägt eine Kapitänsmütze. Die Abfertigungshalle hat ihren Diktatorencharme bewahrt, von oben schauen von meterhohen Tryptichen aus dem Jahr 1948 Hafenarbeiter zu, wie ein Vergnügungsapparat zu schnurren beginnt: Knapp 1900 Reisende haben für die Überquerung des Atlantiks reserviert. Viele tragen deutlich mehr Handgepäck, als das Merkblatt zum Einchecken empfahl.
Viele Brasilianer nutzen die Überfahrt für eine Kombination aus Urlaub und Rückreise - sie verbringen den Sommer in Europa und haben nun kabinenweise Gepäck für das Halbjahr in der Heimat. Manche Familien ziehen endgültig zurück. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Marcos Rugby aus Nicaragua. Seit sechs Jahren macht er die Betten auf Schiffen der Royal Caribbean. Heute sind es derart viele Koffer, dass sich die Abreise verzögert. Rugby murmelt halblaut: "Wir werden zu einem Frachtschiff."
Die Splendour of the Seas folgt der Route der Entdecker. Nach zwei Tagen liegen die Kanaren in der Morgensonne. Lanzarote, Teneriffa und Gran Canaria: Ausflugszeit, Landgang - natürlich werden Touren angeboten, Gruppen von Passagieren an Sehenswürdigkeiten vorbeigeschleust. Wie Zoobesucher steigen wir durch eine Realität, die anders schmeckt, anders lärmt und einen anderen Rhythmus hat als an Bord: sie ist spontan und nicht von Erlebnisplanern im Voraus organisiert.

Während die Schiffswelt jeden Tag geputzt und behübscht wird, ist die spanische Krise im Urlaubsparadies kaum zu leugnen: Ladenlokale stehen leer, Taxifahrer klagen, in der größten Zeitung des Landes wird überlegt, ob nicht die Einkommenseinbrüche den realen Lebensstil der Spanier zurückbringen. Wer will, sieht selbst auf den überschaubaren Ausflügen die Welt des scheinbaren Reichtums zerbröseln. Zurück in der Scheinwelt der Kreuzfahrt hingegen klappert das Plastikgeschirr - und es stimmt ja: es sind kaum Spanier an Bord, als die Reise über den Atlantik beginnt.
Nach den Kanaren waren die Kapverden der nächste Orientierungspunkt, den Cabral am 16. März, eine Woche nach dem Ankerliften in Lissabon, erreichte. Die Splendour fährt nach drei Tagen auf dem Meer durch die Inselgruppe hindurch - "hier gibt es keinen touristischen Anreiz", sagt eine der Frauen in jener Uniform, die sie als Ansprechpartnerin für alle Lebensnöte auf See ausweist. "Die Kapverden sind arm, wissen Sie, es wäre nicht ungefährlich."
Die Tage auf dem Meer vergehen in einer seltsamen Breiigkeit, es gibt nichts zu tun, nur die Mahlzeiten geben den Rhythmus vor. Auf der Splendour gibt es das große Restaurant, ein enormes Büffet im Oberdeck, eine Sushi-Bar und ein Steakhaus. Nachmittags öffnet am überdachten Schwimmbad ein kleines Büffet, davor ein Hot Dog-Stand, unter Deck gibt es ein Café und es wimmelt von Bars. "Wir bereiten rund 10.000 Mahlzeiten pro Tag", sagt der indische Schichtleiter in der Küche, bevor er wieder an die Arbeit muss. Im Schnitt essen die Gäste öfter als vier Mal täglich.
Dinner Time
Das abendliche Dinner, auf dem Traumschiff festlicher Fixpunkt, gerät auf der Splendour zu einem halbformellen Akt: Gäste kommen unpünktlich, Garderobevorschriften werden unterlaufen, und es sind vor allem ältere Passagiere, die in Robe und Smoking antreten. Oft sieht man sie danach im Centrum, einem breiten Lichtschacht, an dessen Rückwand gläserne Aufzüge entlanggleiten: Hier gibt es Tanz, mit Frank Sinatra-Halbplayback, oder braven Südamerikarhythmen. Auf dem Oberdeck umlagert das jüngere Publikum bei fahlem Licht kostenlose Saftmaschinen, oder wartet in der Disco auf das Glück.
Wer möchte, kann für 150 US-Dollar eine Tour hinter die Kulissen unternehmen. In Kleingruppen geht es durch Küche, Lagerdecks, Motorstand oder die Offiziersmesse. Stolz erklären Zuständige die Mülltrennung: einen Kubikmeter zusammengepressten Müll verbrennt der Ofen in der Stunde, Essensreste werden zerhäckselt den Fischen vorgeworfen.
Die Ingenieure geben zu, dass auch die Splendour auf hoher See fast ausschließlich mit Schweröl angetrieben wird: Sie produziert Abgase, die Millionen Autos über Tage in die Luft pusten würden. Schließlich fachsimpelt eine Gruppe US-Amerikaner mit dem Kapitän auf der Brücke, er nickt stumm zu den Schnurren der aufgeregten Rentner. Sie tragen Hemden und Mützen mit Namen allerlei anderer Schiffe.
Während Cabrals Kurs nach Südwesten ein Kampf um Winde war, verbringen die meisten Gäste der Splendour den Tag wie plattgebügelt um den Pool - Willenlosigkeit macht sich breit: Man kann dem Animateursgeschrei, den Tanzkursen, Spieleabenden, Gymnastikkursen und Karaokenächten nicht entgehen. Das Tagesprogramm wird an jedem Treppenabsatz auf Plasmabildschirmen feilgeboten und durchbricht mit ellenlangen, mehrsprachigen Durchsagen jede Ruhe.
Stille Orte gibt es nicht: Ein Teil der Philosophie auf Kreuzfahrtschiffen ist die stete Bewegung, ohne dass ein eigentliches Ziel erreicht wird. Das Kreuzfahrtschiff ist ein Beispiel jener "Nicht-Orte", die der Hamburger Soziologe Aldo Legnaro beschreibt, wenn er durch Disneyland und Einkaufszentren spaziert. Alles muss stets in Bewegung sein. Es herrscht stete Imitation von Freude. Der Imperativ des Spaßes besteht aus einer gelenkten, vorausberechneten Freiheit: Wir können alles tun und lassen, jede Verantwortung abgeben. Denn wir müssen den Teil beitragen, den Legnaro "die konsensuelle Begeisterung des Publikums" nennt. Nur so erfüllt sich das Abenteuer.
Unter Erfolgszwang
Gab es nicht genügend Warnungen? Hat nicht der US-Autor David Foster Wallace von der Kreuzfahrt als "diabolisch verführerischem Versprechen" geschrieben? Demnach stellt die Crew sicher, dass jeder das größtmögliche Vergnügen haben wird, weil sämtliche störende Funktionen, die ein Erwachsener mitbringen kann - Zweifel, Hemmung, Reue - beiseitegeräumt werden. So hat jeder Gast am Ende "keine andere Wahl, als eine tolle Zeit zu erleben".
Diese tolle Zeit wird von der niedrig bezahlten Crew bestätigt: Das Plastiklächeln und die teflonharte Begeisterung der Animateure bleiben auch auf beharrliche Nachfragen kratzfrei. Der Oberkellner aus Chile ist ein an Konservatorien in Moskau und Berkeley ausgebildeter Musiker, in der Küche werkt ein abgebrochener Literaturwissenschafter aus Peru, die Salatbar dirigiert ein unfertiger Geologe aus Lissabon: Alle-samt seit Jahren mit den siebenmonatigen Verträgen der Royal Caribbean unterwegs; allesamt versichern sie, dass sie das Geld mögen, das Reisen und die Gäste. Bis man es ihnen glaubt. Auf die Frage, was das "Royal" im Namen der Betreibergesellschaft meint, antworten sie wie aus der Pistole geschossen: "Jeder Gast soll sich wie ein König fühlen."
Am Nachmittag huscht eine Theatergruppe aus Saõ Paulo in gedeckten Kostümen aufs Hinterdeck, die Schauspieler sind Teil einer Therapiegruppe, zum Teil Patienten, zum Teil Therapeuten. Sie arbeiten an einem Stück auf der Grundlage von Kafkas "Amerika".

Einige Wochen später wird einer der Begleiter, der brasilianische Philosoph und Psychoanalytiker Peter Pal Pelbart von der katholischen Universität zu Saõ Paulo, sagen, dass ihm das Schiff wie die bedenklichste Existenzform unserer Zeit vorkam: "Der Zwang zum Vergnügen, die absolute Ruhelosigkeit, die Unmöglichkeit sich zu konzentrieren. . ."
Drei Tage hinter den Kapverden ist es soweit: Als in den frühen Morgenstunden die Anzeigentafel unter Anfeuerung der Animateure die Breitengrade gegen Null herunterzählt, ist es um den Pool gerammelt voll mit Menschen, die Betttücher zu Umhängen umfunktioniert haben: Eine Togaparty soll Poseidon besänftigen. Am Morgen liegt das tägliche Faltblatt mit einer Urkunde auf dem Bett, es bezeugt den Übertritt auf die Südhalbkugel. Einst eine Leistung.
Die Küste Brasiliens erahnte Cabral durch Seetangstreifen im Meer. Die Splendour kreuzt breite Ölschlieren, die aus den Plattformen entweichen. Nach 31 Tagen sichteten Cabrals Mannen die Küste. Tags drauf ankerten sie, gaben der Bucht den Namen Porto Seguro und nahmen ein paar Indianer an Bord, um sie zu begutachten. Es war der 23. April 1500.
Im Bauch der Splendour zeigt die Presseverantwortliche in einen turnhallengroßen Raum, fensterlos und leer: "Als wir in Lisabon ablegten, hatten wir hier etwa 40 Lastwagenladungen mit Essen verstaut." Dem Frühstück fehlte bereits der Räucherlachs.
Elf Tage nach Ablegen in Lissabon bahnt sich die Splendour einen Weg entlang der ankernden Schiffe vor San Salvador, 700 Kilometer nördlich von Puerto Seguro. Die Reste vom alten Glanz der Stadt sind mühsam konserviert: die Altstadt im portugiesischen Kolonialstil, Innenhöfe von Klöstern, die ganz mit Kacheln ausgekleidet sind. Auf ihnen abgebildet: das Lissabon Cabrals, bevor es mit dem Erdbeben verschwand.
Unten am Pier steht der brasilianische Offizier Hans von Blucher. Die Splendour, sagt er "ist eines der kleinsten Schiffe der Royal Caribbean. Sie sollten einmal mit unserer Allure of the Seas reisen. Da sind sie mit 8000 Freunden unterwegs."
Wenige Tage nach unserer Ankunft steuerte Kapitän Schettino sein Schiff "Costa Concordia" gegen die italienische Insel Giglio.
Lennart Laberenz, geb. 1976, Historiker, Journalist und Filmemacher, lebt in Berlin und in Südamerika.