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Am Montag, dem 6. Februar, ist in Barcelona der spanisch-katalanische Maler Antoni Tàpies gestorben. Mit seinem Tod ist ein umfangreiches, ja gewaltiges Werk abgeschlossen, das seit fast sechzig Jahren weltbekannt ist und durch den lebenslangen Schaffensprozess des Künstlers immer wieder neues Aufsehen erregte.
Antoni Tàpies zählte zu einer Generation von internationalen Künstlern, die in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung der modernen Kunst entscheidend geprägt hatte. Geboren 1923 in Barcelona, galt er seit den frühen 1950er Jahren als radikaler Vertreter einer nicht-gegenständlichen, "informellen" Malerei und Grafik (er selbst lehnte den Ausdruck der "abstrakten Kunst" ab). Später entwickelte sich sein Werk zur Material- und Objektkunst, zur Skulptur.
Zur selben Generation zählten jene ebenfalls berühmt gewordenen Vertreter der nordamerikanischen Moderne, die ursprünglich als "Abstract Expressionists" bezeichnet wurden und sich später der "Pop Art" annäherten - etwa Robert Rauschenberg (1925- 2008), oder Europäer wie Joseph Beuys (1921-1986). Und aus dieser Generation stammten auch bedeutende Komponisten der sogenannten "Neuen Musik", mit denen Tàpies befreundet war, wie etwa Pierre Henry, Pierre Boulez, Luigo Nono oder Karlheinz Stockhausen. Begriffe wie "musique concrète" oder "serielle Musik" erschienen bereits in den frühen 1950er Jahren, als die Protagonisten der modernen Kunst der Nachkriegszeit junge, radikale Künstler waren.
Vielseitige Inspiration
Musik war für Antoni Tàpies eine Quelle der Inspiration, aber nicht nur die zeitgenössischen Werke seiner Komponistenfreunde, sondern auch das Werk von Johannes Brahms, wie er im Alter betonte. Genauso war er auch von Literatur und Philosophie geprägt. Als Zeichner und Druckgrafiker schuf er in Zusammenarbeit mit einer Reihe bedeutender internationaler Lyriker Mappenwerke und bibliophile Bücher, die Gedichte und Zeichnungen umfassten (neben anderen arbeitete er mit dem Katalanen Joan Brossa, dem französischen Dichter Yves Bonnefoy oder dem Mexikaner Octavio Paz, der 1990 den Nobelpreis erhielt, zusammen).
Auch als Kunst-Theoretiker und Schriftsteller war Tàpies tätig, veröffentliche mehrere Bücher zu Fragen der Kunst und eine umfangreiche, zweibändige Autobiografie.
In der vergangenen Woche konnte man Nachrufe in den internationalen Medien hören und lesen: Da stand, dass mit Tàpies’ Tod eine Epoche der Moderne zu Ende gegangen sei, und dass mit ihm einer der letzten großen, international bedeutenden Künstler gestorben sei.
Aber welche Epoche ging mit dem Tod des katalanischen Meisters tatsächlich zu Ende? Das ist eine Frage, die in mehrere Richtungen weist: Tàpies’ Schaffenszeit gehört in die lange Phase der Entwicklung der modernen Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg, die mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert umfasst. Die Grundlagen für diese zweite Moderne des 20. Jahrhunderts entstanden durch die Arbeit der damals jungen Generation von Künstlern, die trotz ihrer Internationalität parallele Erfahrungen teilten: den Zweiten Weltkrieg, totalitäre Regime, im Fall der spanischen Künstler wie Tàpies den Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) und die Diktatur unter General Franco, die fast vierzig Jahre währte. Zur gleichen Generation zählten auch die literarischen Protagonisten der amerikanischen "Beat Generation", die als Gruppe von Schriftstellern in den 1950er Jahren Furore machte und international einflussreich wurde.
Die Erfahrungen von Krieg, Unterdrückung und Zerstörung prägten die gesamte Entwicklung der Nachkriegskunst auf unterschiedliche Art. Vor allem ist diese Kunst ernsthaft, nach einem Neubeginn suchend. Trotz vieler tragischer Themen, die damals verarbeitet wurden, war die Entwicklung idealistisch und humanistisch geprägt.
Philosophische Basis
Für den jungen Maler Tàpies, der 1950 mit einem Stipendium in Paris lebte, wurde das Werk von Jean Paul Sartre wichtig: "Der Mensch ist ein Entwurf des Menschen."
Der philosophische Hintergrund dieser Jahrzehnte, der die Gründergeneration der Nachkriegsmoderne so geprägt hatte, verschwand aus der Kunstentwicklung oder der Diskussion über Kunst in den 1970er Jahren. Der größte Teil der Kunst der vergangenen drei Jahrzehnte entwickelte sich zu einem belanglosen, kommerziellen "Event"-Getue, dem jede ernsthafte philosophische Basis fehlt. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie auch Antoni Tàpies selbst betont hat.
"Das, was einen wirklich tief bewegt und was letzten Endes den künstlerischen Wert ausmacht, wird stets von der Form selbst abhängen, beziehungsweise von der Art und Weise, wie diese Werke gemacht sind", schrieb Tàpies in dem Essay "Die Tätowierung und der Körper".
"Man kann Linien zart mit Feder und Tinte machen, mit einem weichen oder auch mit einem etwas härteren Bleistift; man kann schließlich die Pinselspitze einsetzen oder mit einem Spatel oder einem Messer heftig einritzen . . . Auf diese Weise werden Linien plötzlich zu verschiedenen Gefühlen, angenehmen oder unangenehmen, zu hellen und dunklen Tiefreliefs, zu bekannten oder rätselhaften Volumina."
Der Künstler streift hier einen wesentlichen Gedanken: "Was einen wirklich tief bewegt", mache "letzten Endes den künstlerischen Wert aus." Niemand, der sich mit Musik beschäftigt, wird das bestreiten. Mit der bildenden Kunst ist das etwas schwieriger.
Daraus folgt der Gedanke, dass gerade das künstlerische Werk von Tàpies den Betrachter berühren kann, auf eine ganz eigene, mysteriöse Weise. Das hat mit einer gestalterischen Kraft zu tun, die der Künstler in jungen Jahren mit seinen ungegenständlichen Materialbildern erreicht hat, die eine besondere "Aura" vermitteln. Diese Art einer "spirituellen Wirkung" ist aber auch ein Kennzeichen der großen spanischen Kunst, auch anderer Moderner, wie Joan Miró, oder es ist in den Skulpturen und Grafiken des Basken Eduardo Chillida zu finden.
Ich las in den Büchern, die ich zu Tàpies besitze, und fand Aussagen von anderen Autoren, die sich mit meinen Eindrücken verbinden lassen. Seit meiner Jugend, den frühen 1970er Jahren, hat mich das Werk von Antoni Tàpies immer wieder beschäftigt und fasziniert. Die Wirkung, die seine Werke bis heute auf mich haben (aber nicht alle, bei dessen riesigem Oeuvre!), ist dergestalt, dass es mir immer wieder kalt im Nacken wird, und dieser physische Eindruck sich übers Rückgrat fortsetzt. Etwas tief Mysteriöses, Unheimliches und auch Befreiendes ist in diesen meist dunklen Materialbildern.
Eigene Wirklichkeit
Tàpies erklärte immer wieder, dass Kunst ein alchimistischer Prozess sei, der auf Erkenntnis, erhöhtes Bewusstsein und Humanismus gerichtet ist, vergleichbar einem wissenschaftlichen Forscher. Karl Ruhrberg schreibt in dem Buch "Kunst des 20. Jahrhunderts" zum Werk des Katalanen unter dem Titel "tellurische Landschaften": "Die Anregungen, die Tàpies von seinen berühmten Landsleuten Picasso und Miró, von Klee und den Surrealisten empfangen hat, treten im Lauf seiner Entwicklung immer mehr in den Hintergrund. Tàpies schafft sich seine eigene Wirklichkeit, Bildlandschaften, deren formale Spannung auf dem Kon-trast von leeren, schweigenden Räumen und gestalteter Form, von Positiv und Negativ, Erhebung und Vertiefung, Zufall und Ordnung, Freiheit und Bindung beruht."
Früh hatte der Künstler die Leinwand in die dritte Dimension verändert, indem er zähflüssige Gemische aus Gips, Marmorsand, Zement, Lehm und Ölfarben auftrug, tastbare, erfühlbare Oberflächen herstellte, die in weiterer Folge mit Textilien, Schnüren und anderen Materialien verdichtet wurden. Figurale Darstellungen sollten im Werk des Künstlers erst spät erscheinen, nach 1981.
Vorher erschienen nur Spuren: Abdrücke von Füßen oder Händen, wie an Sandstränden, oder wie die Abdrücke von Händen, die sich auf Türen oder Mauern oft finden. "Man könnte daher Tàpies einen frühen Spurensicherer nennen", meint Karl Ruhrberg. Das Thema der Mauer (benützt, beschmiert, bezeichnet, abgeschlossen) ist im frühen Werk immer wieder von Bedeutung. Als rätselhaften Scherz erzählte der Maler in einem Interview, dass Mauer in seiner katalanischen Muttersprache "Tàpia" heiße.
Im Sommer 1998 fand die bisher letzte größere Ausstellungen mit Werken Tàpies’ in der Kunsthalle Krems statt. Die erste Schau war dreißig Jahre vorher, 1968, von Werner Hofmann im "Museum des 20. Jahrhunderts" in Wien gestaltet worden. Im Begleitbuch zur Kremser Ausstellung ("Antoni Tàpies: Bilder, Skulpturen, Zeichnungen 1981-1997") schrieb Barbara Catoir, die selbst 1997 einen umfangreichen Band von Gesprächen mit dem Maler veröffentlicht hatte: "Seit einigen Jahren bringt seine Kunst immer mehr ihn selbst zum Vorschein, den Menschen, und das heißt nicht nur seinen Geist, seine kulturelle Bildung, unbeugsame Haltung, große Humanität, Demut und sein gleichermaßen franziskanisches wie zenbuddhistisches Armutsideal, sondern auch den Körper mit seinen Gebrechen."
Alchimistischer Prozess
Was kann man von Kunst eigentlich erwarten, wenn man von ästhetischem Wohlgefallen oder einem vagen Unterhaltungswert absieht, also von seichten Qualitäten? In seinem geschliffenen Stil würde der intellektuelle Künstler Tápies solche Kriterien vom Tisch fegen. Er ging davon aus, dass Kunst ein Weg und Mittel sei, um "das Wesen des Menschen" zu ergründen, die Abgründe der gesamten Existenz, der Welt.
Wie erwähnt, sah Tàpies seine Arbeit als alchimistischen Prozess, als Verwandlung des Bewusstseins. Er zitierte den katalanischen Mystiker Ramon Llull, den Alchimisten Robert Fludd. In seinem gesamten Werk scheinen rätselhafte Zeichen auf: X, Kreuze, kalligrafische Formen, die an asiatische Zeichnungen erinnern, die vom Zen-Buddhismus geprägt sind. Auch damit hat sich der unbeugsame Humanist Tàpies sein Leben lang auseinandergesetzt.
Bernhard Widder, geboren 1955, lebt als Schriftsteller, Lyriker Essayist, Übersetzer und Architekt in Wien. Im Welser Mitter Verlag ist sein Gedichtband "Handgerede" erschienen.