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Ernest William Hornung: Verbrechen und Cricket

Von Constantin Schwab

Reflexionen
Zwei Gentlemen im Kriminal: A J. Raffles und sein Begleiter Bunny Manders (Illustration von Hy Leonard zu E.W. Hornungs "Wilful Murder", 1899).
© E. W. Hornung, Hy Leonard, Public domain, via Wikimedia Commons

Vor hundert Jahren, am 22. März 1921, starb der englische Autor und Erfinder des legendären Meisterdiebes A. J. Raffles.


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Hierzulande sorgt der Name Ernest William Hornung vornehmlich für müdes Schulterzucken, in seiner englischen Heimat jedoch genießt der Schriftsteller einen ähnlichen Legendenstatus wie Sir Arthur Conan Doyle. Seine Geschichten um den passionierten Cricketspieler und Gentlemandieb A. J. Raffles sind englisches Nationalgut, die Wirkung und Beliebtheit der Figur vergleichbar mit Ostap Bender in der Ukraine oder Arsène Lupin in Frankreich.

Speziell mit Letzterem verbindet Raffles eine enge Verwandtschaft: Beide entstammen der guten Gesellschaft, beide sind Meister der Maskierung, beide führen ein waghalsiges Doppelleben. Und beide Figuren verselbständigten sich nach dem Tod ihrer Schöpfer, leben bis heute in Literatur, Theater, Film und Fernsehen weiter. Dank der aktuellen Netflix-Serie "Lupin" wird der französische König der Diebe gerade von einem Millionenpublikum neu entdeckt, doch die Pionierrolle unter den Kavaliersverbrechern gebührt seinem englischen Kollegen: Während Lupin erstmals 1905 auftaucht, hat E. W. Hornung seine ersten Raffles-Geschichten bereits im Juni 1898 im britischen "Cassell’s Magazine" publiziert.

© Cassell's Magazine, Public domain, via Wikimedia Commons

Schurkischer Held

Den Effekt, den das erste Raffles-Buch, "Ein Einbrecher aus Passion" (im Original: "The Amateur Cracksman"), bei Erscheinen 1899 haben musste, lässt sich heute wohl am ehesten mit dem Erfolg der TV-Serie "Breaking Bad" vergleichen, die in den späten Nullerjahren das serielle Erzählen revolutionierte.

Die von Bryan Cranston verkörperte Hauptfigur des Walter White, eines krebskranken Chemielehrers, der zum skrupellosen Drogenbaron mutiert, war die provokante Antithese zu den ewiggleichen, moralgesteuerten Fernsehermittlern und Vorzeigehelden vergangener Jahrzehnte. Der Protagonist, der sich bewusst für das Böse entscheidet, hatte auf das Publikum eine seltsam befreiende Wirkung, er diente als Ventil für die eigenen, heimlichen Sehnsüchte, die man in der Realität nie auslebte, nach dem Credo: Einmal nur ein Böser sein, einmal nicht nach den Regeln spielen.

Ernest William Hornung (1866-1921).
© Elliott & Fry, Public domain, via Wikimedia Commons (Ausschnitt)

Genau diese moralische Grenzwertigkeit wurde Hornung immer wieder vorgeworfen - gleichermaßen begründete sie seinen Ruhm. A. J. Raffles galt schnell als kriminelles Gegenstück zu Sherlock Holmes, und dass Hornung sich vom Meisterdetektiv aus der Baker Street inspirieren ließ, war kein großes Geheimnis: Dem "Einbrecher aus Passion" stellte er eine Widmung an A. C. D. voran, der nicht nur sein Lehrer, sondern auch sein Schwager war: Bereits 1893 hatte sich der damals 27-jährige Hornung mit Arthur Conan Doyles kleiner Schwester Connie verheiratet.

Doyle selbst riet Hornung von der Veröffentlichung seiner Geschichten ab, er empfand es als falsch und gefährlich, einen Bösewicht zum Helden zu erklären. Vielleicht gefiel ihm auch nicht, wie offen sich Hornung bei seiner eigenen Technik bediente; denn obwohl bei den Abenteuern von Raffles nicht die kreative Lösung eines Verbrechens, sondern deren Ausführung im Mittelpunkt steht, sind die Geschichten formal ganz klar der Dynamik von Sherlock Holmes und Dr. Watson nachempfunden: Auch Raffles hat einen treuen Gehilfen, er heißt Bunny Manders, ist freier Journalist, ständig pleite, und aus seiner Sicht erfahren wir die Meilensteine ihrer Diebeskarriere.

Was diese Erzählungen noch heute spannend macht, ist weniger ihre inhaltliche oder stilistische Raffinesse (Doyle schrieb anspruchsvoller, G. K. Chesterton verspielter), es ist die moralische Ambivalenz der Hauptfigur. Raffles ist kein Robin Hood. Er stiehlt zwar von den Reichen, doch er behält das Diebesgut für sich.

Er verachtet jede Form von Gewalt, und doch plant er einmal einen Mord. Er weiß, dass alles, was er tut, falsch ist, doch er tut es trotzdem. Er rechtfertigt sich damit, dass Besitz von Grund auf ungerecht verteilt sei, doch die Wahl seiner Beute ist reiner Selbstzweck. Er vergleicht sich mit einem Künstler, der nicht nur schöpft, um sich das tägliche Brot zu leisten: Er lebt den Diebstahl um des Diebstahls willen.

Dieb & Dandy

Kriminell, aber elegant: David Niven verkörperte A. J. Raffles in einem Film 1939.
© Silver Screen Collection / Kontributor / getty images

George Orwell schrieb 1944 in einem Essay über Moral und Verbrechen in der englischen Kriminalliteratur, das Besondere an Raffles sei die Tatsache, dass er ein Gentleman ist. Tagsüber steht er in der Öffentlichkeit, trägt schicke Anzüge und verkehrt in elitären Cricketvereinen, deren reiche Mitglieder er nachts bestiehlt. Auf dieser Ironie basiert Raffles’ anhaltende Popularität, er ist der Prototyp des vornehmen Dandys, der ein geheimes Doppelleben führt, ein Urvater von Figuren wie Thomas Crown, James Bond oder auch Bruce Wayne alias Batman, in dessen detektivischer Selbstjustiz sich die Gegensätze von Holmes und Raffles vereinen.

Wie seine Nachfolger im Geiste ist Hornungs Gentlemandieb egoistisch, geheimnisvoll und manipulativ, selbst gegenüber Bunny, den er nicht selten unter falschem Vorwand in seine Pläne hineinzieht. Zu tiefen, emotionalen Beziehungen ist Raffles nicht fähig, Frauen begehrt er nur, wenn er auf ihren Schmuck oder Informationen aus ist. Wahre Liebe existiert in seinem Leben nur eine einzige: das Cricketspiel.

Hier scheint der Autor am deutlichsten hindurch, denn E. W. Hornung war sein Leben lang begeisterter Cricket-Anhänger. Obwohl selbst kein großer Spieler (er litt unter Asthma und schlechter Sehkraft, kränkelte und fror ständig), liebte er den Sport und war Mitglied im Strand Club und im Idles, wo er auch Arthur Conan Doyle kennenlernte. Was Hornung im eigenen Leben verwehrt blieb, lebte er in dem multitalentierten Raffles aus: die Meisterschaft am Platz.

"A fateful whim seized Raffles once more to play in the Old Boys’ Match." Illustration zu "The Field of Philippi" im "Pall Mall Magazine", Mai 1905.
© Cyrus Cuneo, Public domain, via Wikimedia Commons

"Ob der alte Raffles ein hervorragender Verbrecher war oder nicht, mag dahingestellt bleiben, dass er aber als Cricketspieler einzig in seiner Art dastand, das kann ich beschwören", bringt es Bunny Manders auf den Punkt. Wie Orwell hervorhebt, ist Cricket dabei nicht nur eines der wenigen Spiele, bei denen der Amateur den Profi übertrumpfen kann, es hat seiner Veranlagung nach auch einen strengen moralischen Kodex - und bietet damit den größtmöglichen Kontrast zu Raffles krimineller Zweitbeschäftigung.

Nach dem überwältigenden Erfolg des "Einbrechers aus Passion" folgten noch zwei weitere Bände mit neuen Abenteuern von A. J. Raffles, sowie der vernachlässigbare Roman "Raffles als Richter". Anders als Arthur Conan Doyle gelang es Hornung jedoch, sich von seiner berühmtesten Figur zu trennen, bevor er zum Sklaven der eigenen Schöpfung wurde. Am Ende des Buches "Die schwarze Maske" stirbt Raffles im Burenkrieg an der Seite seines verwundeten Gefährten Bunny; ohne Reue, ohne jede Bitterkeit. Nur mit der finalen Erkenntnis, er hätte mit ihm die Zeit seines Lebens gehabt.

Schatten des Erfolgs

Dieser Schlusssatz könnte auch für Hornung selbst gelten: Womöglich spürte der Schriftsteller bei diesen Abschiedsworten, dass er nie wieder eine Figur wie diese kreieren würde, dass er seine erstaunliche Erfolgsgeschichte nie mehr wiederholen könnte. Und in der Tat steht alles, was Hornung davor und danach geschrieben hat, im Schatten von Raffles.

Obwohl der Autor auch ein fähiger und produktiver Romancier war, wurden nur wenige seiner Bücher ins Deutsche übersetzt, selbst die Originalausgaben sind heute allesamt vergriffen. Was schade ist, denn ein kleiner, aber unheimlich effektiver Roman wie "The Camera Fiend" (1911) hätte sich durchaus eine internationale Wiederentdeckung verdient.

In dem Buch, das auf autobiografischen Erfahrungen beruht, verbindet sich eine intime Coming-of-Age-Geschichte mit beunruhigenden Horror- und Kriminalelementen und den dunklen Seiten technischer Innovation. Der sechzehnjährige, somnambule Tony "Pocket" Upton wird darin von den Eltern zu einem Arzt nach London geschickt, um sein Asthma zu behandeln. Der Doktor empfiehlt ihm eine Australienreise, um sich am Klima zu stärken, stattdessen streift der Junge allein durch die Stadt und kauft sich einen Revolver.

Durch eine Kette von Ereignissen verpasst er den letzten Zug, verbringt eine Nacht im Hyde Park und findet sich am nächsten Morgen im Haus eines undurchsichtigen, deutschen Wissenschafters wieder, der eine krankhafte, bald tödliche Obsession für Fotografie entwickelt. In meisterhafter Komposition erzählt Hornung dabei von verzehrenden Leidenschaften, dem Wert eines Lebens und sozialem Außenseitertum. Und natürlich von seinem Lieblingsthema: Cricket.

Alternative Kindheit

E. W. Hornung, karikiert in "Appleton's Magazine" (1904).
© Stuart Boyd, Public domain, via Wikimedia Commons

Gleichermaßen lässt sich der Roman als neugieriger Rückblick und Möglichkeitsvariante der eigenen Kindheit verstehen: Mit siebzehn reiste Hornung tatsächlich nach Australien, aufgrund der elterlichen Hoffnung, Klima und Umfeld würden sich positiv auf sein ständiges Kränkeln auswirken. Als er auf dem fremden Kontinent ankam, da war er ein Asthmatiker und Junge von ständig schwacher Gesundheit. Als er zwei Jahre später, im Februar 1886, zurück nach England kam, war er ein Schriftsteller. Die Zeit in der Fremde hatte ihn zum Schreiben verführt, er fand Arbeit in einer Redaktion und Inspiration für den ersten Roman ("A Bride from the Bush", 1890).

In Pocket Upton dagegen zeigt sich die Version des jungen Hornung, die nie nach Australien gereist ist und womöglich nie mit dem Schreiben begann, eine fiktive, sentimentale Abzweigung, die der Schriftsteller nicht genommen hat. Nach "The Camera Fiend" verfasste er noch zwei weitere Romane, bis der Erste Weltkrieg ausbrach und sein einziges Kind Arthur Oscar (in Anlehnung an seinen guten Freund Oscar Wilde) 1915 in Belgien fiel. Hornungs fiktives Werk war damit beendet.

In seinen letzten Lebensjahren schrieb er hauptsächlich Gedichte und publizierte zwei viel beachtete Kriegsreportagen. Dennoch wird er stets der Mann bleiben, der A. J. Raffles erfand; daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass sein eleganter Meisterdieb außerhalb Großbritanniens nie die Popularität eines Arsène Lupin erreichte. Am 22. März 1921 starb Ernest William Hornung im Alter von 54 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung - nicht im kühlen England, sondern in Frankreich.

Constantin Schwab, geboren 1988, ist österreichischer Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Erzählband "Der Tod des Verführers" im Sisyphus Verlag.