Schulpsychologe: "Schule ist vor allem sozialer Lebensraum." | Die Freude auf Neues überwiegt.
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Wien. "Der sogenannte Ernst des Lebens ist nichts anderes als eine Projektion der Eltern auf ihre Kinder", erklärt der Schulpsychologe Jürgen Bell im Gespräch mit der "Wiener Zeitung."
Der nahende Schulbeginn nach neun Wochen Ferien bedeute demnach eigentlich keine psychische Zusatzbelastung für die Kinder, ist der Experte überzeugt. Und das gelte für den gesamten Pflichtschulbereich.
Eine Wiener Volksschullehrerin sieht das ähnlich: "Die Kinder vergessen viel in neun Wochen, deswegen wird am Anfang des Schuljahres auch viel wiederholt, aber sonst sind eigentlich keine besonderen Vorkehrungen für die Kinder zum Schulbeginn zu treffen."
Besonders für die Taferlklassler sei der Schulbeginn ein aufregendes Erlebnis. Die Kinder seien neugierig und freuen sich darauf. "Nur wenn die Eltern ständig vom Ernst des Lebens sprechen, kann das schnell in Angst umschlagen", so Bell. Die Verantwortung für die Vorbereitung auf den Schulalltag liege also primär bei den Eltern. Diese könnten etwa in den Ferien den bevorstehenden Tagesablauf öfters durchspielen, rät er.
Die älteren Kinder erwarte hingegen nichts Unbekanntes - die freuen sich laut Bell darauf, ihre Freunde wiederzusehen, neue Anforderungen zu meistern und neue Erfahrungen zu machen. "Man darf nicht vergessen, dass die Schule nicht nur ein Platz des Lernens ist, sondern ein sozialer Lebensraum, in dem die Kinder manchmal mehr Zeit verbringen als mit den Eltern", betont Bell.
Der "Ernst des Lebens" trete etwa nur dann ein, wenn sich die Eltern in den Ferien trennen, weil sie es nicht gewöhnt sind, ständig mit dem anderen konfrontiert zu sein. "Dann nehmen die Kinder die Probleme der Eltern in die Schule mit", so Bell. Es gebe aber auch den umgekehrten Weg - zum Beispiel, wenn Kinder die "Probleme" in Form von schlechten Noten mit Heim nehmen. Ausschlaggebend sei hier der Umgang damit. "Viele Eltern rufen uns verunsichert an und fragen, welche Konsequenzen sie ziehen sollen".
Ein universelles Rezept gebe es natürlich keines, sagt der Psychologe. Aber er betont die Bedeutung langer Ferien. "Es ist für die Kinder die wichtigste Zeit, um auszuspannen." Wegen schlechter Noten in den Ferien Verbote zu erteilen hält der Experte definitiv für den falschen Weg. "Damit nimmt man ihnen ja gerade die Entspannungsmöglichkeit", unterstreicht Bell.
Ob neun Wochen Ferien im Sommer zu lange sind, will Bell nicht beurteilen - auch das sei eher ein Thema der Eltern, weil sie sich die Urlaubszeit entsprechend einteilen müssen. Und die Volksschullehrerin räumt ein, dass die Konzentration der Kinder bei hohen Sommertemperaturen stark nachlasse.
Herbstferien landesweit
Dass man die Sommerferienzeit verkürzt und dafür Herbstferien einführt, hält Bell aber generell für denkbar. "Allerdings müsste das österreichweit passieren. Ebenso dieser Meinung ist der Wiener Bildungsstadtrat Christian Oxonitsch: "Auch bei der Ganztagsschule zeigt sich, dass kleinere Lerneinheiten besser sind." Dieses Modell sei auf die Verteilung übers Schuljahr umlegbar - allerdings nur als gesamtösterreichische Lösung. Aber das ist ein anderes Thema.