Der vor 80 Jahren verstorbene Schriftsteller wurde von der Fachwelt gelobt und vom Publikum ignoriert: Eine Erinnerung.
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Es war eine ernüchternde Bilanz, die Ernst Weiß über sein Schaffen ziehen musste: "Ich habe neun Romane, zwei Dramen, viele Erzählungen, einen Gedichtband, einen Band Essays im Laufe von fünfzehn Jahren veröffentlicht. Ergebnis: Ich bin den meisten Lesern, auch solchen, die sich für die neuere deutsche Literatur interessieren, völlig unbekannt."
Bis heute ist das so geblieben, der Name Weiß ist nur wenigen Literaturinteressierten ein Begriff. Wie viele andere musste er vor den Nationalsozialisten fliehen und kam dabei bis Paris. Als aber im Juni 1940 die Wehrmacht in der französischen Hauptstadt einmarschierte, sah Weiß kein Entkommen mehr und setzte seinem Leben ein Ende. 80 Jahre nach seinem Freitod warten die Werke von Ernst Weiß darauf, wiederentdeckt zu werden.
Begonnen hat alles am 28. August 1882 in Brünn, Weiß wurde dort in eine bürgerliche Familie hinein geboren. Nach der Matura inskribierte er in Wien Medizin, wobei er sich vor allem für die Chirurgie interessierte, denn sie war die größte Herausforderung für ihn, "ein Beruf, der einen sich außerordentlich beherrschenden, technisch geschickten, körperlich besonders starken und ausdauernden Menschen verlangt". Nach dem Abschluss des Studiums ging Weiß nach Bern, wo er mit und für den Arzt Theodor Kocher arbeitete, der als einer der Begründer der modernen Chirurgie gilt und 1909 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Olympisches Silber
Die medizinische Arbeit beeinflusste Weiß auch in einem ganz anderen Bereich, er übernahm nämlich den präzisen und schnörkellosen Stil der wissenschaftlichen Symptombeschreibung für seine literarischen Arbeiten. Während der Zeit in Bern wurde das Schreiben für Ernst Weiß immer wichtiger, und so verfasste er seinen ersten Roman, für den er allerdings lange keinen Verlag fand. 1911 kehrte der Mediziner nach Wien zurück und fand eine Anstellung als Chirurg im Wiedner Spital. Allerdings hatte Weiß selbst gesundheitliche Probleme und musste die Arbeit im Krankenhaus aufgeben. Ein Bekannter verschaffte ihm einen neuen Posten, er sollte als Schiffsarzt beim Österreichischen Lloyd eine Fahrt nach Indien und Japan begleiten. Kurz vor seiner Abreise erhielt Weiß die Nachricht, dass sein erster Roman nach Jahren des Wartens endlich in Druck gehen sollte. Nach dieser ermutigenden Nachricht und der Rückkehr aus Asien entschloss er sich, seinen Brotberuf aufzugeben und sich ganz dem Schreiben zu widmen. Trotzdem sollte die Medizin in seinen Werken allgegenwärtig bleiben und Ärzte die Hauptrolle in vielen seiner Bücher spielen.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Weiß eingezogen, die nächsten Jahre verbrachte er in der Armee und war lange Zeit als Arzt in Galizien stationiert. Nach dem Ende des Krieges zog Weiß, der nicht Tschechisch konnte, nach Prag. Allerdings fand er dort nur mehr wenige Gleichgesinnte, denn nach der Gründung der Tschechoslowakei hatten viele deutschsprachige Autoren Prag verlassen. Bald tat Weiß es ihnen gleich und übersiedelte nach Berlin. Er brachte sich als Journalist und Schriftsteller über die Runden, ohne aber wirklich erfolgreich zu sein. 1928 schien es, als würde ihm endlich der Durchbruch gelingen, denn das Land Oberösterreich verlieh ihm den nach Adalbert Stifter benannten großen Kulturpreis. Im selben Jahr gelang Weiß etwas, das heute als Kuriosum gilt: Er gewann bei den Olympischen Spielen in Amsterdam die Silbermedaille, nämlich in der Kategorie Epische Werke.
Aber weder der oberösterreichische Preis noch die Medaille halfen ihm, einem breiten Publikum bekannt zu werden, und er blieb ein Schriftsteller im Verborgenen. In einer Zwischenbilanz seines Lebens schrieb Weiß frustriert, dass von seinem Roman "Boëtius von Orlamünde", für den er in Amsterdam mit der Silbermedaille ausgezeichnet worden war, "trotz billigen Preises, hervorragend schöner Ausstattung und guter Propaganda meines Verlegers nur 1.200 Exemplare" abgesetzt wurden.
Weiß sah sich selbst als missverstandenen Autor, der sich nicht nach dem Geschmack des Publikums richten wollte und lieber zum Ausdruck brachte, was ihn selbst in seinem Innersten beschäftigte. Die Konsequenz hört sich verbittert an: "Auf Resonanz, auf tiefere Anteilnahme selbst eines numerisch kleinen Leserkreises habe ich in den letzten, schweren, aber sehr klärenden Jahren verzichten gelernt." Dieser trotzige Verzicht auf Anerkennung und die Abgrenzung von der Welt, die ihn nicht verstehen wollte, passen auch in das Bild, das von Zeitgenossen gezeichnet wurde. Weiß wurde von vielen Mitmenschen als Einzelgänger betrachtet, der diese Position abseits der Gesellschaft aber auch selbst kultivierte. Sogar an einen langjährigen und vergleichsweise engen Freund wie Leo Perutz schrieb er: "Sie wissen von meinem persönlichen Leben sehr wenig, das ist ja auch ganz natürlich."
Trotz der selbst gewählten Abgrenzung nahm Weiß das Lob, das er von anderen Autoren bekam, gerne an. Thomas Mann nannte ihn "das stärkste Talent unserer neuesten Prosadichtung" und auch Joseph Roth schwärmte von seinen Romanen. Die Anerkennung seiner Kollegen brachte ihm aber keinen finanziellen Nutzen, die Verkaufszahlen seiner Bücher stagnierten und der Erfolg beim Publikum blieb weiterhin aus. Mit Übersetzungen aus dem Französischen konnte er sich einigermaßen über Wasser halten, trotzdem war er stets auf die Unterstützung seiner Verleger und finanzielle Zuschüsse von Freunden und anderen Schriftstellern angewiesen.
Im Schatten
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war auch im Leben von Ernst Weiß eine Zäsur. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 verließ er Berlin und zog wieder nach Prag, wo er seine kranke Mutter pflegte. Als sie im Jänner 1934 starb, übersiedelte er nach Paris und schrieb neben seinen Romanen für verschiedene Migrantenzeitungen. Beides reichte aber nicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Hilfe fand er etwa bei Stefan Zweig, der ihm immer wieder unter die Arme griff.
Trotz der widrigen Umstände blieb er voller Tatendrang, 1939 notierte er über ein neues Vorhaben: "Ein großer Roman über die jüngste Zeit, ein Versuch, darzustellen, dass es auch jetzt noch etwas Lebenswertes gibt, ein Buch der Freiheit gegen die bestialische Barbarei." Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, Weiß war am Ende seiner Flucht angelangt. Am 14. Juni 1940 zogen deutsche Soldaten in Paris ein, am nächsten Tag nahm Weiß in seinem Hotelzimmer Gift und schnitt sich im Badezimmer die Pulsadern auf. Weiß wurde in einem Massengrab bestattet, dessen Lage heute nicht mehr bekannt ist. Wie sein Leben wurde auch sein Tod von der breiten Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen, und so passt es zu dieser Karriere im Verborgenen, dass nach seinem Tod ein Koffer voller Manuskripte spurlos verschwand.
Weiß hatte sich zwar dafür entschieden, die Medizin aufzugeben und sich ganz seiner Karriere als Schriftsteller zu widmen, in einem gewissen Sinn blieb er aber seinem alten Beruf treu. In vielen Werken sind Ärzte die Hauptpersonen, und Weiß beschäftigt sich in seinen Büchern immer wieder mit der Frage, wie sehr der Mensch seinen Geltungstrieb auslebt und in den Lauf der Natur eingreift, etwa indem ein Arzt an die Grenzen des ethisch Vertretbaren geht. Auch der Protagonist seines letzten Buches, "Der Augenzeuge", ist ein Arzt, der, aus Bayern stammend, im Ersten Weltkrieg in ein Lazarett an der Westfront versetzt wird. Dort soll er einen aus Österreich stammenden Gefreiten mit den Initialen A.H. behandeln, der nach einem Gefecht erblindet ist. Die Erblindung entpuppt sich als psychisch bedingt und die folgende Behandlung gelingt, durch die Hilfe des Arztes kann der Gefreite bald wieder sehen. Zwanzig Jahre später und nach der Machtübernahme durch seinen früheren Patienten gerät der Arzt ins Visier des Regimes. A.H. will nämlich um jeden Preis verhindern, dass seine frühere Erkrankung publik wird, denn sie würde an seinem Image des auch körperlich starken Mannes kratzen.
Der Arzt hadert mit seinem Schicksal, denn durch die Heilung des erblindeten Gefreiten hat er in den Lauf der Geschichte eingegriffen und muss schließlich einen hohen Preis dafür zahlen. Er weigert sich, die Krankenakten über die Erblindung des A.H. der Polizei zu übergeben, wird deswegen in Dachau inhaftiert und kann nur mit Glück entkommen. Am Ende flieht der Held des Romans - wie es auch dessen Autor tat - nach Paris, wo er sich den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg anschließt, um den Fehler, den er durch die Heilung des Gefreiten begangen hat, wiedergutzumachen.
Der Roman konnte erst 23 Jahre nach dem Tod des Autors erscheinen - und die Veröffentlichung hat zumindest in Fachkreisen zu einer Wiederentdeckung und gewissen posthumen Anerkennung von Ernst Weiß geführt.
Christian Hütterer, geboren 1974, arbeitet in Brüssel und schreibt Kulturporträts und Reportagen.