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Ernüchterung statt Verheißung

Von Gerald Schmickl

Reflexionen

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Es ist zwar nicht gewiss, aber doch sehr wahrscheinlich, dass Karl Otto Hondrich das Krisengerede der letzten Jahre nicht groß beunruhigt hätte. Der vor fünf Jahren, am 16. Jänner 2007, verstorbene Frankfurter Soziologe war generell nicht leicht aus der Fassung zu bringen - schon gar nicht von sozialen Phänomenen und Konflikten, deren Existenz er ja seine Profession zu verdanken hatte. Misstraut hätte er sicher allen Untergangsvisionen, zu oft hatte er solche kommen und - von der Realität widerlegt - bald wieder verschwinden sehen.

Auch den vielfach behaupteten Primat der Wirtschaft, der die Selbststeuerung anderer Teilsysteme der Gesellschaft (wie Politik, Wissenschaft, Familie) und ihre wechselseitige Abhängigkeit ignoriert, hätte er argumentativ zu entkräften gewusst, ebenso wie den Abgesang auf den Nationalstaat, weil dieser der Globalisierung (und selbst dem globalisierten Kapital) erst das nötige rechtliche und soziale Unterfutter verschafft, ohne das der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr gar nicht stattfinden könnte.

Kollektives Lernen

In Paradoxien zu denken, war sowieso eine der Stärken dieses wendigen, unorthodoxen Geisteswissenschafters. Krisen haben ihn auch deswegen nicht beunruhigt, weil er in ihnen die tiefere Dynamik des kollektiven Lernens über Versuch und Irrtum am Werke sah. "Nicht mit festgelegten Lösungen, sondern mit Alternativen steuern sich Gesellschaften in einer Welt offener Probleme", schrieb er in einem Aufsatz 2001.

Daraus geht hervor, dass Hondrich kein zwanghafter Optimist war - nicht nur, weil das sowieso keine angemessene soziologische Kategorie gewesen wäre. Es kann eben auch ein Irrtum dabei herauskommen, wenn Gesellschaften experimentieren, aber auch das erzeugt - neben unvermeidlichem Leid - neues Wissen und neue Möglichkeiten. "Nicht Verheißungen, sondern Ernüchterungen produziert die Soziologie", war Hondrichs Credo (womit er im deutlichen Gegensatz zu manch anderen, deutlich verheißungsvolleren Frankfurter Soziologen stand). Dass wir heutzutage in vielen Bereichen eher einer Ab- denn einer Aufklärung bedürfen, war die Grundthese seiner Soziologie, die mit nicht allzu großen Erwartungen auftrumpfen wollte.

Sein bevorzugtes Genre war deshalb der Essayismus, in dem Hondrich seinen klaren, durch keinerlei dunklen Jargon getrübten soziologischen Blick kultivierte. Seine Aufsätze erschienen regelmäßig in den großen deutschsprachigen Meinungsblättern und Magazinen, wie "Frankfurter Allgemeiner Zeitung", "Spiegel", "Neuer Zürcher Zeitung" und "Merkur" - und gelegentlich auch in der "Wiener Zeitung". (Viele dieser Essays sind in Bänden der renommierten "Edition Suhrkamp" gesammelt).

Dabei war es Hondrichs Hauptanliegen, zu zeigen, dass viele der über Massenmedien kolportierten Sichtweisen auf soziale Tatbestände und Problemlagen unzutreffend sind. Nicht nur aus Provokationslust oder Freude am Widerspruch korrigierte Hondrich beliebte Stereotype, sondern auch aus nüchternem Erkenntnisinteresse. Aber er wusste um die Zähigkeit verfestigter (Vor-)Urteile: "Eher allerdings geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass eine beliebte Alltagstheorie sich vom empirischen Augenschein oder logischen Argument Lügen strafen ließe."

Trotzdem ließ Hondrich nicht locker, argumentierte in luzider Weise gegen die eingefahrenen Wahrnehmungsweisen an und verkündete mitunter, wie etwa bei dem Thema der zukünftigen Altersvorsorge, überraschend bestimmt: "Denn wie viele Probleme, die im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen, existiert es nicht; genauer: es ist längst gelöst." In diesem Fall heißt die Lösung laut Hondrich "Produktivitätsfortschritt": "Dank steigender Produktivität können immer weniger aktive Jüngere immer mehr Ältere durchfüttern, sogar bei steigendem Lebensstandard für alle. Was immer die Verknappung von Jugend an Problemen nach sich zieht: ökonomischer Art sind sie nicht."

Halbierte Sichtweisen

Ähnlich entschieden trat Hondrich der vor allem in Soziologenkreisen beliebten These von der Individualisierung entgegen. Natürlich gebe es einen Trend dazu, aber der setze keineswegs die kollektiven Bindungskräfte außer Kraft - eher im Gegenteil: manche würden dadurch sogar wieder gestärkt, wie etwa die innerfamiliären Bindungen über die Generationen hinweg, seit die frei gewählten (Liebes-)Beziehungen oftmals scheitern. "Wer nur auf Individualisierung setzt, oder nur auf Gemeinschaftsbildung, verkennt den dualen Charakter des sozialen Lebens. Er hat eine halbierte, eine ideologisch halbierte Sicht der Wirklichkeit."

Wie individualistisch der "Neue Mensch" auch immer sich empfinden mag, er entkommt den elementaren Prozessen des sozialen Lebens nicht, wie Hondrich auf schlüssige Weise zeigte. Er unterschied fünf elementare Prozesse, die für ihn so etwas wie Naturgesetze des Sozialen darstellten. "Es ist das Bleibende, das alle menschlichen Beziehungen durchzieht, von der Herkunft über das Heute bis in die Zukunft. Und es ist etwas, was alle Menschen teilen. . ." Es sind dies die Prozesse des Erwiderns bzw. Austauschens, des Wertens, des Teilens, des Offenbarens/Verbergens und des Bestimmens. Sie sind immerzu und überall präsent, stellen das Innenleben jeder sozialen Beziehung dar.

Hondrich, der sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv mit diesen "fünf Gesetzen" beschäftigte, hatte begonnen, ein Buch darüber zu schreiben, das er aber leider nicht mehr vollenden konnte. Dafür hat er es in seinen letzten Lebensmonaten dank unglaublicher Zähigkeit und Konzentration noch geschafft, eine andere Buchpublikation fertig zu stellen: "Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist" (Campus Verlag, 2007). Darin zeigt der versierte soziale Spurenleser, wiederum gegen die landläufige Meinungslage und das gängige Problembewusstsein, dass es sich dabei um gar kein Problem handelt - und es schon gar nicht mittels moralischer Appelle und politischer Steuerungsmechanismen lösbar ist. Gerade der Geburtenrückgang, der eng mit der Entwicklung allgemeinen Wohlstandes zusammenhängt, ist ein Paradefall für die Selbststeuerung sozialer Systeme.

Hondrich war generell skeptisch, was die intendierte, also bewusste Verbesserung der Gesellschaft durch politische Gestaltungsmittel betraf, aber in diesem Falle hielt er die politische Einflussnahme für besonders unzulänglich. Sie kann, davon war er überzeugt und belegte es auch argumentativ und empirisch, einen derart komplexen Vorgang nicht lenken, weder in die eine noch in die andere Richtung. Sie kann bestenfalls aus den Folgen lernen.

Auch das war eine von Hondrichs tieferen Erkenntnissen: Wir lernen nicht aus Vorsätzen, sondern aus Folgen. "Auf die Inhalte kommt es dabei nicht so sehr an. Wichtig ist, dass alle Ziele und ihre Verwirklichungsversuche rechtzeitig durch einen Gegenversuch revidiert werden können. (. . .) Im Denkschema meiner fünf Elementarprozesse: Demokratie definiert sich weniger durch Werten und/oder Teilhaben, sondern durch Erwidern: Position, Opposition, Revision."

Kein Konservativer

Diese Haltung brachte dem Frankfurter Soziologen öfters den Ruf eines Konservativen und Status-Quo-Bewahrers ein, was aber eine falsche, weil unzutreffende Zuordnung ist. Das befindet auch der deutsche Schriftsteller Navid Kermani, der Hondrich in seinem (umfang-)reichen "Nachdenkbuch" "Dein Name" (Hanser 2011) einen sehr schönen, treffenden Abschnitt - halb Würdigung, halb Nachruf - gewidmet hat.

"Allein schon, dass er in Paradoxien dachte, erhob ihn über die Kulturkämpfer, die sich auf ihn beriefen", schreibt Kermani - und weiter: "Ich verkenne nicht seinen Spaß an der Provokation. Aber Hondrich war zu klug, zu skrupulös und moralisch zu integer, um selbst so fremdenfeindlich zu sein, wie er es den Menschen als natürlichen Instinkt attestierte und durchaus zubilligte. Er glaube nicht an die Friedfertigkeit der Kulturen; Gewalt einzukalkulieren machte ihn jedoch nicht zu deren Befürworter. Ich begreife, warum Konservative sich (. . .) auf ihn beriefen, und bestreite, dass er selbst einer war. Er traute nur dem Fortschritt nicht. Die Vergangenheit hielt er deshalb nicht für besser."

Auch wenn Hondrich die Rolle der Massenmedien bei der Verfertigung von Stereotypen und allzu einfachen Erklärungsmustern sehr genau sah, war er dennoch weit davon entfernt, Medien generell zu verurteilen oder für soziale Missstände und Missinterpretationen verantwortlich zu machen. Nicht nur nutzte er die Massenmedien als Transportmittel für seine eigenen Ansichten (eine unter Soziologen nicht gerade übliche Vorgangsweise), er sprach sie auch von den Hauptvorwürfen, die öffentlich gegen sie erhoben werden, frei: einerseits von ihrer angeblich ursächlichen Rolle bei der Herstellung von Gewalt ("Allen Klagen über die Übermedialisierung zum Trotz: Die Medien stellen nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt der Gesamtgewalt dar. . ."), andererseits von der ebenso verbreiteten Vorstellung, sie rissen die Menschen aus ihren Bindungen heraus: "Die Massenmedien zerstören das Gemeinschaftsleben nicht, sondern werden von ihm in Dienst gestellt und unterliegen dabei einer faszinierenden Dialektik von Gemeinschaftsbildung und Individualisierung. . ."

Unsichtbare Wand

All die Erkenntnisse, die Karl Otto Hondrich zeit seines Lebens gewann, wandte er in seinen letzten Tagen auch auf sich selbst und seinen Sterbeprozess in Folge einer Krebserkrankung an. In einem Tagebuch (auszugsweise postum abgedruckt in der "FAS", April 2007) schrieb er: "Vor dem Tod sind alle Menschen gleich? Ja, aber nur die den Tod vor Augen haben. Unter normalen Lebensverhältnissen sind das nur wenige. Jetzt gehöre ich zu dieser Minderheit. Zwischen uns und der Mehrheit, zu der ich gestern noch gehörte, steht eine unsichtbare Wand."

Hondrichs Frau, die Übersetzerin und Autorin Dörthe Kaiser, hat in ihrem Buch "Chanson triste" (Herder 2010) berührend offenherzig über diese Wand und den "Abschied von meinem Mann" (Untertitel) berichtet. Und Navid Kermani hat Hondrichs paradoxes Denken und Wesen in allerletzter Konsequenz auf einen finalen, alle Gegensätze auflösenden Punkt gebracht: "Er war identisch mit sich auch im Bewusstsein, dass niemand identisch ist mit sich, und nüchtern genug, um vorauszusehen, dass die Nüchternheit nicht aufrechtzuerhalten sein würde. Am Ende wimmerst du. Aller Realismus hilft nicht, die Realität zu ertragen."

Gerald Schmickl, geboren 1961, hat Soziologie studiert und ist redaktioneller Leiter des "extra". 2011 ist von ihm der Essayband "Lob der Leichtigkeit" (Edition Atelier) erschienen.