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Erregungskultur statt Diskussionskultur

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Nahrungsmitteltechniker wissen, dass man Fertiggerichte heute stärker | würzen muss als vor | zwanzig Jahren, weil | unser Geschmackssinn abstumpft. Wie ist das beim öffentlichen Diskurs? | Darf ein Mitglied der Scientology-Sekte einen katholischen Widerstandskämpfer spielen? Darf die hessische Kultusministerin in der bib lischen Schöpfungsgeschich te symbolische Hinweise auf die Evolution entdecken? Darf ein deutscher Innenminister laut über Maßnahmen gegen internationalen Terror nachdenken?


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Im Prinzip ja! Aber der öffentliche Gegenorkan ist ihnen gewiss!

Tom Cruise, Funktionär der Scientologen, stellt in dem Hollywood-Thriller "Valkyrie" den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg dar. Als die Absicht bekannt wird, entbrennt ein Feuersturm der Entrüstung, der in einem Drehverbot im Bendler-Block gipfelt. "Entwürdigung einer Gedenkstätte" und "Schleichwerbung für Scientology" schreien die einen, "Knebelung der Kunst" und "religiöse Intoleranz" die anderen.

Mit der Bemerkung, man dürfe nicht die "Schotten dicht machen" zwischen Biologie und Religion, rief die hessische Kultusministerin und Theologin Karin Wolff (CDU) gleichfalls ganze Heere Entrüsteter auf die jeweiligen Barrikaden: Darwins Jüngern wird "geistiger Totalitarismus" vorgeworfen, während Grünen-Chefin Claudia Roth eine "klerikal-konservative Kulturrevolution" wittert.

Wolfgang Schäuble (CDU), für die innere Sicherheit der Deutschen zuständiger Bundesminister, wird gar als Befürworter des staatlich verordneten Mordes gebrandmarkt, weil er in einem Interview bedauerte, dass es keine eindeutige rechtsstaatliche Grundlage dafür gebe, was zu tun sei, wenn ein deutscher Soldat in Afghanistan plötzlich Bin Laden gegenüberstehe.

In allen drei Themen kann, darf, ja sollte man die unterschiedlichsten Positionen wahr- und ernstnehmen. Drehgenehmigungen sollten nicht nach der Religionszugehörigkeit der Schauspieler erteilt werden. Scientologen, die unsere Grundordnung unterwandern und kippen wollen, brauche ich aber auch nicht.

Die Evolutionstheorie ist einleuchtend und faszinierend. Und wenn mir einer einreden will, dass die Erde genau am 23. Oktober 4004 v. Chr. geschaffen wurde, ist er mir eine sehr lange Erklärung schuldig. Aber als Anhänger des kritischen Rationalismus will ich, dass sich keine Theorie, auch nicht die Darwinsche, gegen Argumente immunisiert.

Auch Schäubles lautes Nachdenken, wie ein Rechtsstaat adäquat auf die logistische Aufrüstung des internationalen Terrors reagieren kann, halte ich für diskussionswürdig. Dabei müssen aber individuelle Freiheit und strikte Rechtsstaatlichkeit geschützt werden

Es ist eben nicht leicht, sich in einer so pluralistischen und komplexen Gesellschaft wie der unseren eine eindeutige Meinung zu bilden. Ein öffentlicher Diskurs, der mit ruhiger Bestimmtheit und fundamentierter Sachlichkeit der Komplexität der Sachverhalte Rechnung trägt, könnte dabei Hilfe leisten.

Doch unsere immer stärker gewürzte "Erregungskultur" (so der Historiker Peter Steinbach) trägt nichts zur Meinungsbildung bei, sondern zu weiterer Abstumpfung, die am Ende nach Erhöhung der Hysterie-Dosis schreit. Dabei ist die Radikalisierung der Wortwahl in der Debatte mit dem Glutamat in der Küche zu vergleichen: Es verstärkt kurzfristig den Geschmack, stumpft ihn aber langfristig ab.

Ungenau zitieren, mit Worten spielen statt sich auf Fakten zu berufen, aufplustern und übertreiben - das sind die Instrumente dieser Erregungs-Unkultur. Die dadurch hervorgerufene Abstumpfung führt zu einer Art "Egalismus", vor dem uns schon Lessing gewarnt hat: "Zu einem großen Mann gehört beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln."