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Bis Samstag können Cineasten Filme und Dokumentationen in diversen Kinos ansehen.
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Wien. Eine Gruppe junger Männer, die einen Berg hinaufsteigt, ist zu sehen. Sie tragen Jeans, Sneakers und bunte Ponchos, und sie haben E-Gitarren um den Rücken geschnallt. Zerlumpt und verwegen sehen sie aus. Das Bild stammt aus dem Film "El Rey" (Der König) und ist das Plakatmotiv des "VI. Mittelamerikanischen Filmfestivals" in Wien. "Ein Road-Movie", erklärt Enrique Bedoya, der Festivalleiter. "So etwas haben wir heuer zum ersten Mal." Die Augen des 50-Jährigen leuchten. Hier im Los Mexikas in der Lange Gasse in der Josefstadt sitzt Enrique Bedoya mit seinem Team an einem der kleinen Tische mit den bunten Tischdecken und bespricht organisatorische Aufgaben. Bis Samstag, den 23. November, läuft das Festival an diversen Schauplätzen, wie der VHS Polycollege Margareten, dem Stadtkino im Künstlerhaus und dem Schikaneder Kino.
Enrique Bedoya und sein Team haben 28 Filme zusammengestellt, Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme. Die meisten handeln von sozialen und politischen Themen. Aber in diesem Jahr gibt es auch ein paar Filme, die ganz aus der Reihe tanzen: "Heuer haben wir sogar einen Science-Fiction-Film und einen Horror-Streifen", betont der Festivalleiter. Außerdem gibt es gleich zwei Filme von österreichischen Filmemachern. Der Eröffnungsfilm am 18. November war "Roque Dalton !Fusilemos la noche!" (Roque Dalton, erschießen wir die Nacht!) von der Dokumentarfilmerin Tina Leisch. Der zweite österreichische Film ist "El Rey" von Stefan Lechner, er wird als Abschlussfilm am Samstag gezeigt werden. Beide haben auf dem Festival ihre Österreich-Premiere.
An das erste Festival erinnert sich Bedoya noch ganz genau. Ein richtig grauslicher Novembertag war es gewesen. Mit diesem Nieselregen, der sich in eiskalten Schneematsch verwandelt. Zu sechst hatten sie damals das Festival auf die Beine gestellt und die Eröffnung war im Bezirkshaus in der Florianigasse abgehalten worden. Es war klein, aber der Saal war dafür brechend voll.
Die Klischees von einem Erdteil voller Mythen
Zu dieser Zeit hatte Enrique Bedoya schon lange in Österreich gelebt. Er war 1994 mit einem Stipendium für den Abschluss seiner Dissertation in Entwicklungsökonomie nach Wien gekommen. Und wegen einer jungen Österreicherin, die er in Guatemala kennengelernt hatte. Seiner späteren Ehefrau. Bedoya war schon damals sehr engagiert, in und außerhalb der Community, hatte Veranstaltungen organisiert, politische und kulturelle Vernetzung betrieben. "Am Anfang war die Idee gestanden, ein lateinamerikanisches Filmfestival zu machen. Lateinamerika, das ist im Grunde eine Sache", sagt Bedoya. Aber schnell hatte man es auf Mittelamerika eingegrenzt. Wie sollte man die Filmlandschaft aus über dreißig Ländern adäquat repräsentieren? Zumal der Kontinent mit seinen vielen Umstürzen und Revolutionen so viel Stoff für Filme, Bilder und Mythen bietet wie kein anderer.
Die bewegte Geschichte Südamerikas hatte auch Tina Leisch magisch angezogen. Bei ihrem ersten Aufenthalt in Südamerika Ende der 1980er Jahre hatte die Filmemacherin die Werke des Dichters Roque Dalton, aus El Salvador, kennengelernt. "Mit diesen Büchern darfst du dich nicht im Bus erwischen lassen", hatte man ihr damals gesagt. Der politisch verfolgte Dichter hat eine bewegte Lebensgeschichte. Mehrmals entging er auf wundersame Weise der Hinrichtung. Einmal entkam er aus dem Gefängnis durch eine Erdspalte, die bei einem Erdbeben entstand. Die Umstände seines Todes sind mysteriös, ermordet von Leuten aus den eigenen Reihen, sagt die Legende. Der Titel von Leischs Films stammt aus einem Gedicht Daltons: "Aída fusilemos la noche y la terrible miseria colectiva" - "Heute erschießen wir die Nacht und das schreckliche Elend der Gesellschaft". Es ist ein Titel voller Poesie und Aufbegehren. Eine Projektionsfläche, wie die ganze Geschichte des Kontinents. Aber auch das ist eine Art des Südamerika-Klischees, das wissen die Anwesenden.
George Goncalves kennt die Klischees natürlich auch, insbesondere die positive Diskriminierung, wie er es nennt. Der 27-jährige Politikwissenschaftsstudent ist seit drei Jahren bei dem Festival dabei. George hat seine Wurzeln zwar in Venezuela und Guatemala. Aufgewachsen ist er aber in Wien und hier fühlt er sich heimisch. Er ist ein typischer Vertreter der sogenannten zweiten Generation. Nicht einmal Salsa tanzen kann er, wie er zugibt. "Wenn Österreicher mich zum ersten Mal sehen, denken die meisten, ich bin Türke, oder Araber", erzählt Goncalves. "Wenn sie hören, dass ich Südamerikaner bin, finden das alle auf einmal cool." Verwirrend findet er selbst das, und absurd. "Südamerika boomt gerade", meint der Student.
Nicht nur für die melancholische Diaspora
Den Boom kennt auch Bedoya, auch wenn er es nicht so bezeichnen würde. "Es ist eine sehr aktive Community", sagt er. Bei den Vorstellungen seines Filmfestivals finde man trotzdem höchstens zehn Prozent Südamerikaner im Publikum, meint der Festivalleiter. Die restlichen neunzig Prozent sind Österreicher. Politisch engagierte Studenten, Cineasten oder Leute, die etwas mit Entwicklungszusammenarbeit machen. So ist das Festival weniger ein Community-Treffpunkt für die Diaspora, als eine Schau mittelamerikanischer Kultur für die Österreicher. "Integration bedeutet für uns nicht nur, sich anzupassen", sagt Bedoya. "Sondern auch, etwas mitzubringen." Abgesehen davon ist die Community auch nicht wahnsinnig groß, fügt Student Goncalves hinzu.
Laut Statistik Austria leben in Österreich derzeit knapp 9600 Menschen lateinamerikanischer Herkunft. Von Wehmut über die verlassene Heimat oder verlorene Kultur kann bei den Migranten keine Rede sein. Diaspora-Klischees greifen nicht bei Enrique Bedoya und seinem Team. Wie sein Leben heute wohl aussehen würde, wenn er in Guatemala geblieben wäre? "Wahrscheinlich so ähnlich wie hier", antwortet der 50-jährige Cineast pragmatisch. "Ich würde sicher ähnliche Projekte machen." Vielleicht etwas mit europäischen Filmen. Die Runde lacht.