Zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine kommen derzeit in Rumänien an. Dort erwartet sie viel Hilfsbereitschaft.
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Kann man sich einfach mal hinsetzen, wenn man auf der Flucht ist? Die 73-jährige Ukrainerin Eugenia Markova kann sich nicht dazu entschließen, obwohl sie an diesem nasskalten Morgen vor Müdigkeit wankt. Obwohl Tochter und Enkelin, die sie begleiten, einen Klapphocker auf die gefährliche Reise mitgenommen haben. Aus dem zentralukrainischen Chmelnyzkyj ging es per Bus bis Czernowitz, und von dort mit einem Taxi die letzten 40 Kilometer zur rumänischen Grenze. Auch der rumänische Polizist an der Abfertigungsstelle lädt die alte Dame mehrmals ein, sich doch bitte hinzusetzen. Es hilft nichts, nein, Frau Markova bleibt stehen, wie alle anderen Wartenden hier, vor dem Sportplatz im Grenzdorf Siret.
Schnee fällt auf den Schlamm, Feuerwehrautos bringen im Minutentakt Flüchtlinge her. Ein Kinderwagen nach dem anderen wird aus den Kleinlastern gehoben, müde Mütter ziehen Rollkoffer. Väter sieht man kaum, weil wehrfähige Männer jetzt die Ukraine nicht verlassen dürfen.
Keine gültigen Pässe und Horrorgeschichten
Als ob Krieg und Flucht noch nicht schrecklich genug wären, haben die Ankömmlinge am Sportplatz ein Zusatzproblem: Sie haben keine für die EU gültigen Reisedokumente. Rumänische Polizisten stellen ihnen in den Sportplatz-Büros auf der Stelle Ersatzpässe aus - gelegentlich allein auf der Grundlage von Geburtsurkunden oder gar Führerscheinen.
Horrorgeschichten machen die Runde darüber, dass das von Wladimir Putins Bewunderer Viktor Orban regierte Nachbarland Ungarn Ukrainer ohne biometrische Reisepässe nicht einreisen lassen wolle. Stunden später kommt die Entwarnung vom rumänischen Außenminister Bogdan Aurescu: Er habe seinem ungarischen Kollegen Peter Szijjarto diese Schikane ausgeredet, verkündet er in einer Erklärung. Kaum einer der Flüchtlinge möchte in Rumänien bleiben, fast alle haben Westeuropa als Ziel - viele auf dem Landweg via Ungarn. Zu Verwandten und Freunden in der zahlreichen ukrainischen Diaspora. Bis zum Freitagmorgen hatten nach Regierungsangaben seit Beginn des Kriegs fast 180.000 Ukrainer Rumänien erreicht, von denen etwa zwei Drittel inzwischen weitergereist sind. Und die Dynamik wird täglich stärker. Nur knapp 1.900 haben bisher in Rumänien einen Asylantrag gestellt.
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Vor allem die Kinder haben meistens keine Reisedokumente, aber auch alte Damen wie Frau Markova. Sie hat nur einen Personalausweis. Die Tochter Tatjana Vakarenko (48) und die Enkelin Anastasia (22) haben biometrische Pässe, mit denen sie problemlos weiterreisen könnten. Also warten diese drei Generationen mit zwei Köfferchen und dem nicht benutzten Klapphocker jetzt auf die bürokratischen Mühlen.
Danach soll es nach Österreich weitergehen, wo Tatjanas Mann arbeitet. Zu Hause in Chmelnyzkyj, wo sie bereits erste Raketeneinschläge hören konnten, haben sie Tatjanas zweite Tochter zurücklassen müssen. Sie wollte auf keinen Fall weg, obwohl sie schwanger ist. Ihr Mann soll zur Armee eingezogen werden, sie will in seiner Nähe bleiben.
Durch die Grenzbürokratie hilft den Ankömmlingen eine Schar von ehrenamtlichen Dolmetschern. Es sind Leute wie Pavel Soiman, ethnischer Ukrainer aus Siret. Wie seine Kollegen ist er fast ständig am Grenzübergang präsent. An den dutzenden Ständen mit Hilfsgütern vorbei lotst er immer wieder Gruppen von Flüchtlingen zum Schulgebäude von Siret, wo erst einmal festgestellt wird, wer einen rumänischen Ersatz-Pass braucht und deswegen zum Sportplatz gebracht werden muss.
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Die Dolmetscher haben sich untereinander vernetzt, schicken sich eilig gegenseitig zu akuten Einsätzen: Zur Dokumentenbeschaffung, zu einem der vielen Ärzte, die Flüchtlinge gratis behandeln, zur Vermittlung von Mitfahrgelegenheiten zum nächsten Bahnhof oder Flughafen. Eine überwältigende Menge von Privatleuten habt spontan Essen, Decken, Hygieneartikel und Kleider an die Grenze gebracht und Flüchtlinge kurzerhand bei sich zu Hause aufgenommen.
Aber auch der rumänische Staat ist in sonst ungewohnter Weise effizient und aktiv. Katastrophenschützer transportieren Menschen, lokale Behörden haben Psychologen an die Grenze geschickt. Mit deren Hilfe gelang am Freitag in Siret sogar eine Geburtstagsfeier für eine siebenjährige Ukrainerin. Die Behörden besorgten eine Torte. Die Rumänen seien "ein leuchtendes Beispiel für europäische Solidarität", sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Donnerstag bei einem Blitzbesuch in Bukarest. Ein völlig verdientes Lob.
Viele kommen über die Republik Moldau
Mehr als die Hälfte der Ukrainer kommen in diesen Tagen über die benachbarte Republik Moldau, die auch an die Ukraine grenzt. Moldau liegt geografisch auf der direkten Route für die Flüchtlinge aus der Südostukraine. Diese Ex-Sowjetrepublik dient aber auch zunehmend als Ausweichvariante für Westukrainer, die es nicht an die polnische Grenze schaffen - wegen der Staus und wegen der kriegsbedingt immer unsichereren Landstraßen.
So ging es auch der 30-jährigen Rechtsanwältin Zhanna Zaiets, die mit ihrer Mutter, Tante, Cousin und Nachbarin gerade noch rechtzeitig aus der Hauptstadt Kiew floh. Mit dabei ist auch Zhannas Verlobter, der als moldauischer Staatsbürger in der Ukraine nicht wehrpflichtig ist. Völlig übernächtigt sitzt die sechsköpfige Gruppe an diesem Morgen beim Frühstück in der Pension "Splendid" im rumänischen Dorohoi. Auch die Haustiere sind mit dabei: Der Beagle Aidi zerrt lebhaft an seiner Leine, in einem Katzenkorb schläft der graue Tigerkater Boris.
Erst soeben hat die Gruppe die nahe moldauisch-rumänische Grenze überwunden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es in Moldau keine freien Pensions- und Hotelzimmer mehr gab. Vorher hatten sie fünf Stunden an der ukrainisch-moldauischen Grenze bei Moghilev-Podolsk warten müssen. Jetzt wollen sie erst einmal schlafen und danach weiter zu einer Tante in die Slowakei. Mit ihren zwei Autos.
"Bis zur Grenze sind wir mit drei Autos gefahren", sagt Zhanna. "Das dritte Auto ist in der Ukraine geblieben, drinnen saßen mein Vater und mein Onkel. Sie sind noch keine 60 Jahre alt, also wehrpflichtig. Sie dürfen nicht weg. Ich wollte auch nicht fliehen, aber mein Vater hat mich dringend darum gebeten. Vier Nächte haben wir in Kiewer Luftschutzkellern verbracht."
Die junge Frau würde ihr Land am liebsten eigenhändig mit der Waffe in der Hand verteidigen. "Wir sind bereit zu sterben, das ist der Unterschied zwischen uns und den Russen. Wir Ukrainer sind in Friedenszeiten nicht so proaktiv, aber wir werden es in schweren Zeiten."
Bis jetzt kam vor allem die Mittelschicht
Die russischen Bürger hätten dieselbe Verantwortung wie Putin, denn sie hätten ihn gewählt. "Wie kann Putin behaupten, Lenin habe die Ukraine erst erfunden? So ein Blödsinn", ereifert sie sich.
Auch die vielen verbalen Solidaritätsbekundungen aus Westeuropa sind ihr zu wenig. Der Eiffelturm und das Brandenburger Tor in ukrainischen Farben und auch die sonstige Hilfe - das sei ja gut und schön, aber sie würde sich mehr Taten vom Westen wünschen. "Sie (die Russen) bringen uns um - was wollt ihr mehr? Wir hoffen auf Europa, die USA und den lieben Gott, falls es ihn geben sollte."
Wie Zhanna gehörten die meisten ukrainischen Flüchtlinge in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch zur einigermaßen gut situierten ukrainischen Mittelklasse. Doch an der rumänischen Grenze beobachten viele Helfer, dass neuerdings immer mehr Geflüchtete aus ärmeren Schichten ankommen, die nicht wissen, was aus ihnen werden soll. Sollte der Krieg weitergehen, dürfte sich dieser Trend verstärken und die Hilfsbedürftigkeit wachsen. So sieht es auch er Dolmetscher Soiman: "Die schwierige Zeit beginnt erst jetzt."